17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Erlesenes – Bücher vom Aufbegehren

von Wolfgang Brauer

Manchmal führt ein Klappentext in die Irre: Dieses Buch sei „ein Roman über die Kunst, in einer Zeit des Umbruchs die richtige Gelegenheit zu ergreifen.“ Nun gut, da ergreift Einer die Gelegenheit in Form des Spalthammers, schlägt einem Bauernpaar die Schädel ein und verschwindet Richtung Amerika. Der mit der Ermittlung beauftragte Polizeibeamte Albin Justus Hektor Gauch, „ein Staatsdiener, den das Leben langweilte im Grunde“, hat zunächst nur einen Hirschhornknopf, einen gipsernen Stiefelabdruck und das Foto eines ältlich aussehenden Kindes in der Hand, auf dessen Rückseite das Wort „Bajass“ gekritzelt steht. Das oberdeutsche „Bajass“ werden sprachgeschichtlich Interessierte sofort mit „Bajazzo“ assoziieren und liegen nicht ganz, aber schlussendlich doch völlig daneben. Im Alemannischen ist es auch ein Schimpfwort: Ein Bajass gilt als närrisch, einfältig und dumm. Einer den man ungestraft prügeln und sonst wie schikanieren darf. Der Dorfdepp sozusagen. Das Foto zeigt, wie der Autor sagt, „diesen jungen Menschen als leichte Beute in einem üblen Spiel, das er so nicht hatte spielen wollen – überlistet und nun in seiner Drangsal gefangen wie der Vogel auf dem Leim.“ Flavio Steimann bietet dem Leser nicht die voyeuristische Schilderung dieser Drangsale. Andeutungen genügen, seine Sprache ist karg wie die Landschaft, in der seine Geschichte spielt. Der Autor schrieb auch keinen der inflationär die Buchhändlertische überwuchernden Heimatkrimis. Nach wenigen Seiten ist dem Leser der künftige Inhalt der polizeilichen Ermittlungsakte eigentlich klar. Das Spannende an diesem Roman ist die Frage, wie sich der Beamte Gauch verhalten wird, wenn er denn – dass er das schaffen wird, daran lässt der Erzähler keinen Zweifel – sein Opfer, es ist eine Jagd, nichts anderes, vor sich haben wird. Er wird, so viel sei hier verraten, auf den „Blick eines gefangenen Tiers“ stoßen, den er schon auf dem Foto vorfand. Flavio Steinmann hat ein großes Buch über das „krumme Holz Mensch“ geschrieben, das nur auf den ersten Blick in längst vergangenen Zeiten angesiedelt ist. Mich hat diese Geschichte sehr angerührt.

Flavio Steimann: Bajass. Roman, Edition Nautilus, Hamburg 2014, 128 Seiten, 19,90 Euro.

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Auf eine ganz andere Weise als Steimann nähert sich Hans Jürgen Krysmanski der „sozialen Frage“. Krysmanski, von Haus aus Soziologe, hat im Westend Verlag ein Buch vorgelegt, das sowohl biographischer Essay als auch fiktionale Erzählung sein will – und das ist, ich schicke es voraus, sein Problem. Der Autor nimmt sich die letzten Lebensmonate von Karl Marx vor und beschreibt dessen Reise im Winter und Frühjahr 1882 nach Algier und den Zwischenaufenthalt auf der Rückreise in Monte Carlo. Das von den Töchtern und Friedrich Engels angeordnete „Gesundheits- und Wiederherstellungsmanöver“ hatte wohl anders als es ein emphatischer Brief von Schwiegersohn Paul Lafargue an Engels suggeriert („Marxens Anblick hat mich zutiefst erfreut – er hält sich gerade, seine Augen sind funkelndes Leben, mit einem Wort, er scheint viel gekräftigter als damals, als er London verließ…“), auch aufgrund des säuischen Wetters nicht den gewünschten Erfolg. Erfolgreicher war allerdings Marxens durch die veränderte Umgebung beflügeltes Nachdenken über die Weiterarbeit am „Kapital“; auch wenn er Freund Engels und Tochter Eleanor für die Folgebände des ersten nur ein umfängliches Papierkonvolut hinterließ, das von Engels erst 1894 endgültig gebändigt werden konnte. Krysmanski nun lässt Marx angesichts der Erlebnisse in Algier und Monte Carlo eine neue Art von Kapitalismus, den Finanzkapitalismus und seine Träger, die „neuen Eliten“, entdecken. Das liest sich spannend, kommt mitunter aber doch zu gelehrt daher. Eine dazwischen gemischte Liebesgeschichte macht das Ganze nicht unbedingt stärker. Hans Jürgen Krysmanski hätte sich auf den Essay beschränken sollen. Anregend ist das Büchlein aber allemal.

Hans Jürgen Krysmanski: Die letzte Reise des Karl Marx, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2014, 112 Seiten, 10,00 Euro.

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Wissenschaft und preisverleihende Politiker billigen der Literatur gerne alle möglichen „Funktionen“ zu. Die „entdeckerische“ gehört in das Standardrepertoire des gelehrten Podiums. Nur Schmerzen sollte Literatur möglichst nicht bereiten. Wenn denn schon Entdeckungen gemacht werden, dann doch bitte anderswo oder zumindest fünfundzwanzig Jahre zurück im Leben der anderen. In unserem, bitteschön, nicht! In Oldenburg, das liegt bei Leer – ja, wo ist das denn? – wohnt einer, der in Leer aufgewachsen ist, Jahre in Berlin und Köln verbrachte und genau dies macht: Rumentdecken wo eigentlich nichts entdeckt werden sollte. Beispielsweise hat er, von Jochen Schimmang ist die Rede, 2011 in seinem Roman „Neue Mitte“ die Möglichkeit eines faschistischen Putsches in Berlin durchgespielt, der wieder einmal erst durch das brachiale Eingreifen unserer Nachbarn beendet werden konnte. „Neue Mitte“ wird als fiktionale Literatur bezeichnet, und Schimmang gern in die Schublade einer „Neuen Innerlichkeit“ verfrachtet. Die Rubrizierungen der deutschen Germanistik werden immer blödsinniger. In der „Edition Nautilus“ legte Jochen Schimmang jetzt ein Buch vor, dass sich wieder nur mit Gewalt in diese Schubfächer zwängen lässt: „Grenzen Ränder Niemandsländer“ betitelte es der Autor. Er selbst verweigert ihm eine Gattungszuschreibung und nennt das Ganze „Geländegänge“. Wer ihm durch sein Gelände unverdrossen folgt, landet tatsächlich immer wieder „am Rand“. Am Rand der Republik, die noch mehr Grenzen hatte – im Westen nämlich –, als es uns derzeit die Mainstream-Medien suggerieren wollen. Am Rande des literarischen Diskurses bei Peter Handke zum Beispiel, der als einer der ganz wenigen Autoren seinerzeit das „Serbien-muß-Sterbien-Geschrei“ nicht mitmachte. Die bleierne Zeit der Bundesrepublik dagegen, die habe so etwas Mittiges. Da wurde weniger das abenteuernde Aufbegehren einer durchgeknallten Gruppe entlaufener Bürgerkinder, der RAF und ihrer Sympathisanten, zum Stillstand gebracht. Da wurde etwas entwickelt, das Schimmang als „System Mitte“ bezeichnet, und dem nichts entgehe. Die Mitte hat für den Autoren etwas „Erdrückendes“. In diesem Land, das „so sehr politisches Biedermeier ist wie vermutlich kein anderes auf der Welt“, scheint alles auf Stillstand geschaltet, und es gebe nur noch einen „Feind, den man fürchtet wie die Pest, das sind die Armen. […] Die Armen sind offenbar eine furchteinflößende Rasse, wenn man ihnen gegenüber die ‚Festung Europa’ ausbauen und auch innerstaatlich die Gräben vor der Burg immer tiefer ausschachten muss. Es gibt hier eine Eindeutigkeit des Drinnen und Draußen, die keineswegs naturwüchsig, sondern gemacht ist, und zwar planmäßig. Sie beruht nicht allein darauf, die Schwachen draußen zu halten, sondern sie möglichst so weit zu schwächen, dass sie den Frieden derer da drinnen nie mehr stören können.“
Man muss offenbar in Oldenburg leben, um sich zu solch tollkühnen Sätzen, die jeden wackeren deutschen Linken erschaudern lassen – der soziale Frieden ist schließlich ein hohes Gut, ja der Frieden überhaupt! – hinreißen zu lassen. Heimat fände sich für die Armen dieser Welt, auch dieses Landes, das „nur von Gnaden anderer existiert“ (er meint die Nachkriegsgnade der Siegermächte, die auf Morgenthau- und ähnliche Pläne verzichteten), nur in den Niemandsländern. Und der Kapitalismus? Der Autor spricht davon, dass der wirklich von den geschwächten Massen angegriffen werden könnte: „in dem Augenblick nämlich […] in dem er wirklich nicht mehr funktioniert […]. Was diesen Augenblick angeht, besteht durchaus Hoffnung, überall auf der Welt.“ Jochen Schimmang hat eines der anregendsten Bücher des Jahrganges 2014 vorgelegt.

Jochen Schimmang: Grenzen Ränder Niemandsländer. 51 Grenzgänge, Edition Nautilus, Hamburg 2014, 156 Seiten, 19,90 Euro.