14. Jahrgang | Nummer 1 | 10. Januar 2011

Demokratur – nein danke!

von Klaus Staeck

Stell dir vor, alle Parteien, Parlamente und Regierungen wären von der Masse der vom Politikbetrieb Enttäuschten hinweggefegt worden. Endlich alles frei entscheiden können, ohne dem Zwang der tausend Regeln folgen zu müssen. Nur noch Systemkritiker führen das Wort. Der Neue Mensch kann sich, beflügelt vom Erfolg seines Protests, entfalten. Die scheinbar allmächtigen Parteien haben sich enttäuscht aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Viele freigewordene Posten sind zu besetzen. Die Lobbyisten: ratlos, welchen Ansprechpartnern sie ihre Entscheidungen diktieren können. Vorläufig ungeklärt bleiben die Zuständigkeiten für die kommunalen Minusunternehmen wie Kanalisation, Schlaglöcher und die teure Kultur. Auf diese Aufgaben wartet das Ehrenamt.
Nordöstlich von Berlin, in Anklam, ist die neue Welt der nahezu parteilosen Politikzone zu besichtigen, sind diese Verheißungen Realität. Ein demokratisch von zwei Dritteln seiner Bürger wiedergewählter Alleinherrscher bewegt seit Jahren die Hebel der Macht nach seinen eigenen Regeln. Er schimpft auf alle Politiker und verehrt Putin, den lupenreinen Demokraten.
eine lästige Diskussion im Stadtparlament mit den Vertretern der Rumpfparteien, sondern unbürokratische Hau-Ruck-Entscheidungen, lautet sein unwiderstehliches Credo. So einfach und effizient funktioniert diese „Demokratur“, wie er sie selber nennt. Mit der herkömmlichen Auffassung von Demokratie hat das nicht mehr viel gemein.
Aber im Falle der alten Hansestadt Anklam, mit ihrem Otto-Lilienthal-Museum und einem funktionierenden Theater, will es die Mehrheit der Bevölkerung ganz offensichtlich so. Das ist mir ein schöner Bürgerprotest, der nach dem starken Mann ruft! Noch scheint die Anklamer Lösung ein Einzelfall zu sein, wenngleich die Tendenz einer anschwellenden Verdrossenheit über die Parteienherrschaft in diesem unserem Lande unübersehbar ist.
Nur die Grünen leben noch von ihrem Gründungsmythos als Anti-Parteien-Partei, egal, wie etabliert sie sind. Auf dem Höhepunkt der Wählergunst reklamieren sie in Baden-Württemberg sogar den Ministerpräsidenten-Posten. Rückschauend ein geniales Erfolgsmodell: zwar als Partei mit allen Privilegien und Möglichkeiten ausgestattet, im Ernstfall jedoch immer auch Teil der Bürgerprotestbewegung. Die Jusos versuchten auch schon einmal – nicht eben erfolgreich – ähnliches mit der von ihnen proklamierten Doppelstrategie.
Wer also ständig gegen die „etablierte Politik“ und „das ganze System“ zu Felde zieht, muss sich darüber im Klaren sein, was an deren Stelle treten soll. Die Wirtschaft ist seit Langem der Meinung, sie könne die Geschäfte des Staates viel besser und effektiver managen, um nicht den Weg über Lobbyisten gehen zu müssen.
Ohne Parteien und Parlamente, die Alternativen diskutieren, Interessen austarieren und oft mühsam Kompromisse finden, ließen sich Diktaturen verwalten, aber kein lebenswertes Gemeinwesen. Unbestritten ist viel Vertrauen verspielt worden. Eher gilt es, dieses zurückzugewinnen, statt verantwortungslos in neuen Feindbildern und Wunschvorstellungen das Heil zu suchen. Wer so laut das Lob des Unpolitischen singt, wie es oft zu hören ist, sollte sich bewusst sein, dass auch dieser Zustand mehr Ungeheuer gebären kann, als er es sich vorzustellen vermag.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung in der Berliner Zeitung, am 15.10. 2010.