17. Jahrgang | Nummer 17 | 18. August 2014

Tagebuch im Sturmgepäck

von Reinhard Wengierek

„Heute kam der Liebesbrief: ‚Sie haben sich am 23. Nov. 1915, vormittags 8 Uhr, auf dem Hof des Bezirkskommandos IV zu stellen!‘ Da haben wir den Salat.“ – Adolf Nieke in seinem Kriegstagebuch.
„Wir mussten über eine Flussbrücke, die dauernd von Russen mit Granaten überschüttet wurde. Es war ein fürchterlicher Höllenlärm; ich stolperte, sah und erschrak: es war ein toter Russe ohne Kopf.“  – Adolf Troegner in einem Feldpostbrief 1915.
Was für ein Zufall – Im gelegentlichen Gespräch unter Kollegen fanden die beiden Berliner Schauspielerinnen Gabriele Streichhahn und Franziska Troegner beiläufig heraus, dass Adolf Nieke aus Berlin-Friedrichshagen (Köpenick), geboren am 21. Juli 1887 in Ermsleben/Harz, der Urgroßvater von Gabriele, und dass Adolf Troegner aus Berlin-Oberschöneweide, geboren am 18. Juni 1879 in Neurode/Schlesien, der Großvater von Franziska, dass die beiden Männer Kriegstagebücher führten, die, zusammen mit der Feldpost und Fotos, von ihren Nachfahren gehütet wurden wie ein Schatz. Der wird nun, aus gegebenem Anlass, nämlich dem Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, von den Nachfahren Streichhahn und Troegner im kleinen Theater im Palais hinter der Neuen Wache in Berlin Unter den Linden in die Öffentlichkeit gehoben – Motto: „Tagebuch im Sturmgepäck“.
Es sind fürs Private bestimmte Berichte, teils komisch, teils auch grotesk, überwiegend aber entsetzlich und grauenvoll. Sie erzählen vom Alltag in der Etappe und an der Front und gelegentlich auch vom Leben der (zuletzt hungernden) Familien daheim in Berlin. Sie berichten von quälenden Strapazen, von elenden Märschen (teils 50 km am Tag mit 35 kg Gepäck), von Not und Krankheit, vom Sterben und Überleben. Und so zeichnen sie ein sehr konkretes Bild vom Alltag des Krieges, den man den Ersten Weltkrieg nannte. Und dem, als der in aller Welt gellende Ruf „Nie wieder!“ verhallt war, alsbald ein Zweiter Weltkrieg folgen sollte…
A. Troegner, Drogist und später AEG-Angestellter (er starb 1935), wurde gleich in den ersten Kriegstagen eingezogen, kam im Osten zum Einsatz; A. Nieke hingegen musste sich erst bei einer Nachmusterung 1915 stellen und wurde in den Westen kommandiert, er war Buchbindermeister mit Werkstatt und Papierwarenladen und starb 1968. Beide Adolfs waren verantwortlich für Munitionsnachschub, hatten also viel mit Transportpferden und deren Versorgung zu tun. Und beide überlebten glücklicherweise ihre Höllen und konnten unverletzt heimkehren zu ihren Familien nach Oberschöneweide, Schillerpromenade, oder nach Friedrichshagen ins Papierwarengeschäft.
Die saftigen, sehr detailreichen Aufzeichnungen der beiden Großväter nahmen ihre beiden Enkelinnen zur Grundlage für eine packende (Kriegs-)Geschichtslektion „von unten“. Von zwei Kriegern, die sehr lebendig aufscheinen in diesen Dokumenten, weil sie sehr direkt über das Auskunft geben, was längst historisch – und dennoch virulent ist in der Welt („Menschen vollkommen zerrissen; Tote wie gesät“).
Das freilich Besondere daran ist, dass es Familienangehörige der Zeitzeugen sind, die uns das dokumentarische Material ihrer Ahnen vortragen – und: dass es obendrein Schauspielerinnen sind, die eindrücklich sprechen und obendrein dem Ganzen noch persönliche Bemerkungen einflechten, was die Sache umso aufregender macht. Ergänzt werden die Vorträge durch musikalische Assoziationen vom Klavier (die wunderbare Pianistin Ute Falkenau) sowie einige bestürzende literarische Zitate etwa von Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Ernst Jünger, Gerhart Hauptmann, Käthe Kollwitz, Rosa Luxemburg. Und an der Videowand sehen wir Fotos der beiden Adolfs – in Uniform und mit Kriegskameraden sowie in Zivil und mit ihren Frauen, Familien, Kindern, Freunden.
„Tagebuch im Sturmgepäck“ ist also ein sehr intimer Abend – und zugleich übergreifend ins Große. Liebevolle Erinnerung, Klage und Anklage kommen da unversehens zusammen. Eine seltene Mischung; aufrüttelnd, das Herz ergreifend.