von Ulrich Kaufmann
Ein Dutzend Jahre, zwischen 1974 und 1985, haben Wulf Kirsten und ich – meist zwischen Weimar und Jena – eine Korrespondenz über „unseren Schriftsteller“ Oskar Maria Graf (1894-1967) geführt. Von Kirsten, dem knapp eine Generation Älteren, wusste ich, dass er als junger Mann, zwischen 1955 und 1966, im Briefkontakt mit dem bayrischen Volksschriftsteller gestanden hatte. Er ließ mich die Briefe lesen, bevor sie 1993 im ersten Graf-Jahrbuch gedruckt wurden. Den veröffentlichten Briefen Grafs hat Kirsten einen einleitenden Essay vorangestellt, den er, warum auch immer, in seine Sammlungen „Textur“ (1998) und „Brückenweg“ (2009) nicht aufgenommen hat. Dort heißt es: „Graf war der erste, der mich ernst nahm und auf meine Briefe verständnisvoll einging. Jeder seiner Briefe […] war so gehalten, als wäre ich seinesgleichen. Was unser beider Herkunft anbelangt, so war ich das auch.“ Mit dem im fernen New York lebendenden Autor konnte sich der werdende Dichter nicht nur über Literatur, sondern auch über lebenspraktische Fragen austauschen. Dass es sich bei Wulf Kirsten um einen vorzüglichen Lyriker, Prosaiker und Essayisten handelt, ist spätestens seit 1989 in ganz Deutschland zur Kenntnis genommen worden. Kirsten hat vor allem einen Ruf als Landschaftsdichter, der ebenso bleibende Porträtgedichte schuf. Auch diese Widmungs- und Porträtgedichte, unter denen sich (noch) keines über Graf befindet, sind „landschaftsgesättigt.“ Über seine jahrzehntelange, ebenso stille Arbeit als Lektor des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar, als der er seit den späten sechziger Jahren auch Grafs Werk betreute, ist außerhalb Thüringens wenig bekannt. In den Briefen zwischen Weimar und Jena sieht man, dass der Dichter seinem „Brotberuf“ als Lektor „gewissenhaft und besessen“ (Eberhard Haufe) nachging. Als Herausgeber der Grafschen Sammlung von Kalendergeschichten, die 1974 unter dem Titel „Raskolnikow auf dem Lande“ erschien, stellte der sympathisierende Autor-Editor nicht schlechthin Texte zusammen, sondern er suchte akribisch nicht nach der jeweils letzen, sondern stets nach der „besten“ Fassung. Da Graf seine Texte oft überarbeitete, war dies keine leichte Arbeit. Erschwerend kam zur Zeit der deutschen Teilung für den Vielleser Kirsten hinzu, dass in den Bibliotheken der DDR längst nicht alle notwendigen Titel der Primär- und Sekundärliteratur (etwa zu Graf) auffindbar waren. Deshalb auch wechselten Bücher, Adressen, Dokumente zwischen Weimar und Jena, (der „Doppelstadt“ Goethe), hin und her. Kirstens Briefe zeigen, was wir gemeinsam für den bayrischen Volksautor zu tun vorhatten und was sich tatsächlich realisieren ließ. Unsere Bemühungen waren umfangreich, die Resultate insgesamt unbefriedigend. Welche Richtung hätte die Rezeption Grafs in der DDR nehmen können, wäre sein Exilroman „Der Abgrund“, wie angekündigt, auf der Leipziger Buchmesse 1957 erschienen? Wulf Kirsten, der eine höchst beachtliche Zahl von gediegenen Anthologien allein oder mit Mitstreitern auf den Weg brachte, hat mehrfach versucht, Texte von Graf in Sammlungen aufzunehmen. So findet sich in einer Anthologie mit Liebesgeschichten, welche Kirsten 1984 gemeinsam mit Konrad Paul unter dem Titel „Rendezvous im Zoo“ edierte, auch Oskar Maria Grafs Erzählung „Der letzte Mensch will heiraten.“ Zweiter Schwerpunkt unserer Dispute war die Arbeit an meiner Promotionsschrift „Epische Selbstdarstellung im Werk Oskar Maria Grafs“ (1978). Kirsten hat sowohl die Konzeption, als auch die frühen Fassungen der drei Hauptkapitel zu „Wir sind Gefangene“, „Das Leben meiner Mutter“ und „Gelächter von außen“ gelesen und mit Randglossen versehen. Neben Rolf Recknagel (der den jungen Kirsten während seiner Studienzeit in Leipzig 1960-1964 vielfältig anregte) gab es in der DDR kaum Gesprächspartner, die Grafs Werk so genau kannten wie Wulf Kirsten. Der Dichter, der im Jahre 2003 Ehrendoktor der Jenaer Universität wurde, war für mich, begreife ich im Nachhinein, fast so etwas wie ein weitere Doktorvater. Wieviele Stunden hat der Lyriker und Lektor mit dem Lesen meiner Texte zugebracht? In der Doktorarbeit habe ich ihm im Jahre 1978 gedankt, aber genügt das? Kirsten blieb in seinen Briefen stets höflich, versuchte einen jungen Wissenschaftler, der zudem publizistische und editorische Ambitionen hatte, zu ermutigen. Wenn man ihn um seine Meinung bat, bekam man sie – im Klartext. Die Briefe Kirstens legen Zeugnis davon ab, wie Bücher in der DDR entstanden, verschoben oder verhindert wurden. Die Rede ist von Zensureingriffen und Situationen, über die man nicht schreiben konnte, die nur unter vier Augen zu bereden waren. Wulf Kirsten, der Poet, Prosaiker, Essayist, Herausgeber und Lektor, wird am 21.Juni 2014 achtzig Jahre alt. Dass sein Hausverlag ihn, der über Jahrzehnte tote und lebende Kollegen mit Blättern für den Literaturkalender des Aufbau-Verlages beschenkte, zu seinem Jubiläum nicht mit einem eigenen Kalenderblatt ehrt, zeigt, wie wenig sich auch dieser Verlag heute seiner eigenen Wurzeln bewusst ist.
Auszug aus einem neuen Buch Ulrich Kaufmanns, das zwei Texte und zwei Graphiken Susanne Theumers zu Wulf Kirsten enthält. Es erscheint im Sommer 2014 unter dem Titel „WIR HATTEN FIEBER. DAS WAR UNSERE ZEIT – Studien und Äußerungen zur (ost-) deutschen Literatur“.
Schlagwörter: Oskar Maria Graf, Ulrich Kaufmann, Wulf Kirsten