17. Jahrgang | Nummer 12 | 9. Juni 2014

Kein fröhlicher Geburtstag

von Lutz Unterseher

28. Juni 2014. Das Attentat von Sarajewo jährt sich zum hundertsten Male. Wir denken daran, dass der Erste Weltkrieg mindestens neun Millionen Soldaten und über sieben Millionen Zivilisten das Leben kostete. Und wir erleben eine Kriegsgedächtniskultur, die ungezählte Druckerzeugnisse auf den Markt spült. Oft sind es umfangreiche Konvolute, vielleicht sogar bebildert. Denn nur durch Umfang und Illustration meint manch einer, sich der Komplexität des Geschehens gewachsen zu zeigen. Und doch zeigen sich blinde Flecke.
Ich bekenne mich doppelt schuldig: Zum einen habe ich selbst zu dieser Publikationsflut beigetragen und zum anderen wohl eines der dünnsten Büchlein zum großen Thema geliefert (Der Erste Weltkrieg. Trauma des 20. Jahrhunderts). Versucht wird darin eine Konzentration auf die blinden Flecke der Debatte, was allerdings eine kursorische Gesamtdarstellung des Geschehens nicht ausschließt.
Sicherlich ist ein Eingehen auf die Kriegsschuldfrage unvermeidlich. Doch was gegenwärtig geschieht, erscheint höchst problematisch. Bislang galt der solide Befund, dass aus einer Regionalkrise erst dann ein Weltenbrand wurde, als der deutsche Kaiser seinem Wiener Kollegen carte blanche für die Eskalation gab. Nun lesen die bürgerlich Rechten in unserem Land aus Clarks „Schlafwandlern“, dass die Serben und Russen zumindest auch sehr viel Schuld trifft und dass wir Deutschen nicht mehr so geknickt auf die Welt schauen müssen. Passend zu unserem amtlich verordneten Selbstbewusstsein, dem neue militärische Engagements in der Ferne wieder angemessen sein sollen. Doch es dürfte Widerworte geben. Aus der Schuldfrage wird ein nicht enden wollender Gerichtsprozess werden oder ein Kriminalroman, der von wichtigeren Aspekten ablenkt.
Ebenfalls ist es sinnvoll, sich mit den bis in unsere Tage reichenden politischen Fernfolgen zu beschäftigen: von der Völkerbund- und späteren VN-Idee über die nach dem Ersten Weltkrieg erst richtig aufblühenden aggressiven Nationalismen bis hin zu heute noch virulenten Konfliktkonstellationen. Beispiele: Griechenland und Türkei sowie Palästina. Dabei besteht der Eindruck, dass etliche Debattenbeiträge insbesondere den Palästinakomplex etwas zu samtpfötig angehen.
Doch was sind die blinden Flecke, die zusätzliche Informationen und Diskussionen erforderlich machen? Es ist der Krieg selbst und seine Opfer, über die en detail, wer will das schon, nicht so gerne geredet wird.
Der Krieg findet sich meist unter „Materialschlacht“ rubriziert, was etliche Schauplätze – etwa den fürchterlichen auf dem Balkan – nicht wirklich charakterisiert. Und es wird kaum erkannt, dass der Krieg dort, wo er sich als Materialschlacht darstellte, 1916 pleite war. Nichts ging mehr. Die Feuerflut und die immer geschicktere Defensive hatten obsiegt. Wobei das Grundmuster dieser Defensive – tief, netzartig, flexibel – in späteren Konfrontationen dem jeweils Schwächeren verhalf, dem zunächst überlegenen Aggressor Respekt abzufordern: mit dem wohl nicht unsinnigen Ergebnis erzwungener Zurückhaltung. Beispiele: Finnland gegen die Sowjetunion (1939), Vietnam gegen China (1979), Hisbollah gegen Israel (2006).
Auch leider zu wenig beleuchtet: das Bemühen darum, den Krieg zu retten, aus dem Grabenkampf heraus wieder Bewegung, Siegesoptionen zu gewinnen. Was gab es da nicht alles an Innovationen, die auch heute noch viele beunruhigen und manchen das Leben nehmen: flexible Durchbruchstaktiken für Infanterie und  Artillerie, Giftgaseinsatz, Panzerkrieg und das Bombardieren ziviler Ziele aus der Luft. Zu wenig ist erforscht, aus welchen Motiven jene handelten, die sich an dieser Wiederbelebung des Krieges schuldig machten.
Und da sind schließlich, aber nicht an letzter Stelle, die Opfer, die gerne in Statistiken versteckt werden. Es ist zu fragen, wie typische Schicksale der etwa 20 Millionen Soldaten verliefen, die im Krieg körperlich verwundet wurden. Und was mit den psychisch Verstümmelten geschah, die ebenfalls nach Millionen zählten, ohne dass Einigkeit über den genauen Umfang bestünde. Was wir allerdings wissen ist, dass die damaligen Militärmediziner mit diesen Opfern barbarisch umgingen. Den Nachfolgern in den KZs als würdige Ziehväter. Davon ist auch heute noch zu reden.

Ausführlicher hat sich der Autor in seinem jüngst veröffentlichten Buch geäußert – „Der Erste Weltkrieg. Trauma des 20. Jahrhunderts“, Springer VS, Wiesbaden 2014, 131 Seiten, 17,99 Euro (Anmerkung der Redaktion).