14. Jahrgang | Nummer 1 | 10. Januar 2011

Der politische Mensch

von Oskar Negt

Eine Demokratie ohne Demokraten kann es nicht geben, … das bedarf der Erläuterung. Demokratische Verhaltensweisen müssen Subjektteil werden, sodass sie genauso zu den Definitionen des Menschen gehören wie in der Antike die politischen Tugenden. Ziel der politischen Bildung ist also der innengeleitete Mensch, der sich nicht herumschieben läßt und diese Bewegungsart noch als Ausdruck seiner Autonomie missversteht. Es gibt eine Menge Elend in den entwickelten europäischen Gesellschaften, aber betrachtet man die gesellschaftlichen Umbruchphasen, auf die die Gedankenarbeit der von mir zitierten Philosophen, von Aristoteles, Tocqueville, der amerikanischen Verfassungsgeber, reagierte, dann muß man diesem realen Elend auch das Elend der politischen Philosophie im Zusammenhang des europäischen Einigungsprozeß hinzufügen. Denn keineswegs wächst hier selbstverständlich zusammen, was objektiv zusammengehört, und schon gar nicht unter demokratischen Bedingungen. Zigtausend Menschen werden täglich in der Europäischen Union arbeitslos, der Verarmungsprozeß bestimmter Bevölkerungsgruppen wächst. Unter solchen Verhältnissen vergrößert sich sehr schnell der Angstrohstoff der Gesellschaft, auf den die Konservativen und Rechtsradikalen spekulieren können. Es wird großer politischer Anstrengungen der demokratischen Regierungen bedürfen, um mit soziologischer und politischer Phantasie die sich ausdehnenden gesellschaftlichen Krisenfelder zu bearbeiten und den Menschen zu vermitteln, daß es sich lohnt, für den Erhalt demokratischer Institutionen und Rechte zu kämpfen.
Das setzt auch ein neues Öffentlichkeitsbewusstsein voraus, die Schaffung öffentlicher Räume, die nicht zu klein und nicht zu groß sind, wo die Menschen die Wirkungen ihrer Beteiligung erfahren können. Es ist bedrohlich, in welcher Weise gerade diese zwischen Distanz und Nähe ausbalancierten „lebbaren Einheiten“ der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung zum Opfer fallen. Viele der Institutionen sind zu weit entfernt und andere zu sehr auf die individualistischen Perspektiven reduziert. Diese gesellschaftlichen Zwischenwelten wieder zu fördern, ist ein wesentliches Element des notwendigen Umdenkens.
Das ist nur möglich, wenn politische Bildung, die Entwicklung politischen Urteilsvermögens, wieder zentrale Bedeutung in der Erwachsenenbildung bekommen. Gerade in Zeiten von Erosionskrisen und großer gesellschaftlicher Umbrüche sind Lernprozesse, die eine doppelte Qualität haben: sachlichen Kompetenzerwerb und Orientierung, nichts, worauf man unter Umständen verzichten könnte; sie sind vielmehr existenziell, jedenfalls für die Stabilität einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Insoweit ist jene Tugend, die Kant formuliert hat, Grundvoraussetzung für das Überleben einer demokratischen Ordnung: „Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen!“ Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten oder auch fremdverschuldeten Unmündigkeit ist Voraussetzung für den Entschluß, von seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen. Und auch diese Maxime des großen Königsbergers ist zu beherzigen, die er in der Metaphysik der Sitten, im Kapitel  Über die Kriecherei, formuliert: „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.“
Demokratie ist ein unverkäufliches Gut; wenn sie heute zunehmend in allen gesellschaftlichen Bereichen, in den Universitäten genauso wie in den Betrieben, im Interesse vermeintlich steigender Produktivität und der Wegrationalisierung von Umwegen zur Disposition gestellt, gleichsam versteigert wird, dann ist diese Haltung Ausdruck eines Betrugs am Menschen. Denn Demokratie ist nicht nur die einzige staatlich verfaßte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muß; vielmehr hat der Lernprozeß selbst eine eigentümliche Logik. Lebendig kann Demokratie nur bleiben, wenn sie durch weitgehende Mitbestimmungsrechte in allen lebenswichtigen Fragen geübt, zur alltäglichen Lebensform und selbstverständlichen Praxis wird. Freie, geheime und direkte Wahlen gehören zum notwendigen Rahmen solcher Alltagspraxis; aber sie reichten – und reichen! – bei weitem nicht aus, Menschen davor zu bewahren, sich in die großen geschichtlichen Irrtümer autoritärer und totalitärer Systeme aktiv oder durch Duldung verwickeln zu lassen, Figuren wie Hitler, Mussolini oder Berlusconi Legitimationshilfen zu verschaffen.
Selten hat ein bürgerlicher Politiker, schon gar nicht einer aus dem Zeitgeist der Weimarer Republik, das Problem eines nicht durch Erziehung und politische Bildung in der Basis der Lebensverhältnisse verankerten Demokratie-Projekts so differenziert und weitsichtig beschrieben, wie der von den Rechtsradikalen gehaßte und schließlich ermordete Walther Rathenau. Ihn, im Kabinett Wirth zunächst Aufbauminister, dann Außenminister, war nach der gescheiterten Revolution von 1918 klar, daß selbst eine bürgerliche Demokratie keinerlei Überlebenschancen haben würde, wenn sie nicht die soziale Frage löst und die wirtschaftlich Mächtigen entmachtet. In einem Artikel Die neue Gesellschaft schreibt er: „Das politische Ziel: Aufhebung des proletarischen Verhältnisses, läßt sich (…) in großer Annäherung erreichen durch geeignete Vermögens- und Erziehungspolitik, vor allem durch Beschränkung der Erblichkeit. Einer Sozialisierung im engeren Sinne bedarf es nicht. Doch wird weitreichende Sozialisierungspolitik – nicht mechanische Verstaatlichung der Produktionsmittel ist hier gemeint,  sondern radikaler Ausgleich der Wirtschaft und Gesellschaft – deshalb nötig und dringlich, weil sie Verantwortung weckt und schult und weil sie die Zeit- und Wegbestimmung aus den zögernden Händen der herrschenden Klassen in die gerechteren Hände der Gesamtheit legt, die heute vor lauter Demokratie nichts zu sagen hat. Denn Demokratie ist Volksherrschaft nur in den Händen eines politischen Volkes, in den Händen eines unerzogenen und unpolitischen Volkes ist sie Vereinsmeierei und kleinbürgerlicher Stammtischkram.“
„Radikaler Ausgleich“ ist seit Aritoteles Grundthema der politischen Philosophie; er bezieht sich, nach jeweiligen geschichtlichen Bedingungen, zentral auf die gerechte Vermögensverteilung und die soziale Frage, den Umgang mit Reichtum und Armut. Aber in allen Demokratietheorien und empirischen Untersuchungsprojekten schwingt immer ein Gesichtspunkt mit, der angesichts ökonomistischer Verengungen der Begriffswelt der Krisenlösungen vergessen zu werden droht: die Ausschöpfung der Kreativitätspotenziale der Gesellschaft, die in einer demokratischen Gesellschaftsordnung unvergleichlich viel größer sind als in autoritären und totalitären Systemen. Diese kulturellen Produktivitätsreserven sind allerdings nur ausschöpfbar, wenn die Demokratisierung der Gesellschaft nicht auf halbem Wege stehen bleibt: also die wirtschaftlichen Machtverhältnisse der demokratischen Kontrolle entzogen bleiben.

Dieser mit freundlicher Genehmigung des Verlages übernommene Text ist ein Auszug aus dem höchst empfehlenswerten Buch von Oskar Negt „Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform“, das 2010 bei Steidl in Göttingen erschienen ist. ISBN:978-3-86521-561-1, 540 Seiten, 29 Euro