von Erik Baron
In „Mommsens Block“ geht Heiner Müller seiner eigenen Schreibblockade auf den Grund. Wenn es einem durch die Wirklichkeit die Sprache verschlägt, bleibt das Schweigen als Alternative. Oder der Schrei. Die Differenz ist marginal. Dimiter Gotscheff, der einzige Regisseur, der Müllers Intentionen verstand, lebte beide Alternativen – bis auf den Grund (der Sprache). So ist es nur konsequent von Gotscheff, wenn er in seiner letzten Inszenierung am Münchener Residenztheater (als ahnte er, dass es die letzte werden würde) einen Auszug aus „Mommsens Block“ als Einstieg (aus dem Off) las, um dann das Schweigen der leeren Bühne wirken zu lassen. Die Bühne ein geschlossener Raum. Ein riesiger, zementgrauer Bunker. In der Mitte ein quadratisches Podest, eine gestürzte Wand, die wahlweise zur schiefen Ebene angeschrägt wird oder flach auf dem Boden als Spiel-/Projektionsfläche dient. Nach dem Einlesen von „Mommsens Block“ schreit dieser leere Raum seine Stille heraus und saugt den Zuschauer in sich hinein.
Auftritt Valery Tscheplanowa. Von der Hinterbühne kommend, steigt sie auf das Podest und stößt einen Klagegesang aus, der die Stille wie ein Seziermesser zerschneidet. Ein Gesang ohne Worte, es singt aus ihr heraus, als könne sie nichts dafür. All der gebündelte Schmerz des vergangenen Jahrhunderts scheint aus ihr herauszuströmen. Denn Valery Tscheplanowa spielt Njurka, die Tochter von Dascha und Gleb Tschumalow, die im Kinderheim im Sowjetrussland von 1921 vor Hunger krepiert. In der Figur der Njurka ist die Hoffnung und die Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts vereint. Sie ist die eigentlich tragische Figur aus „Zement“, auch wenn sie bei Müller selbst keinen Auftritt hat. So ist das mit der Hoffnung, die zur Katastrophe mutiert: sie agiert meist unscheinbar im Hintergrund. Doch Gotscheff macht sie mit Valery Tscheplanowa nicht nur sichtbar, er treibt sie dem Zuschauer mit ihrem Klagegesang unter die Haut. Und es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Tscheplanowa die Kommentartexte aus „Zement“ spricht, mit denen Müller die Dimension von Gladkows Vorlage ins Weltgeschichtliche erweitert. So wird sie von Prometheus berichten, der sich vehement seiner Befreiung widersetzt oder von Herakles, der gegen die tausendköpfige Hydra ankämpft. Doch zunächst füllt ihr Klagegesang den leeren Raum und bereitet die Atmosphäre für den Auftritt des zwölfköpfigen Chores, der sprach- und gesichtslos die Bühne betritt. Mit ihren verbundenen Köpfen und ihrer gleichfalls zementgrauen Kleidung erscheinen dessen Mitglieder wie Mumien, wie Untote der Geschichte, die aus dem Hades emporsteigen. Aber es ist nur die stumme Masse, die das Geschehen auf der Bühne mit ihren Körpern begleiten wird. Dies also die Ausgangssituation, eine Gesamtchoreographie von schreiender Stille. Mit diesem Einstieg zieht Gotscheff das Publikum in seinen Bann. Wer bisher geglaubt hat, „Zement“ sei ein angestaubtes und also unspielbares Stück, ist spätestens hier von seinen Zweifeln befreit.
Die Handlungsebene ist schnell erzählt: Gleb Tschumalow (Sebastian Blomberg), ein moderner Odysseus, kommt nach drei Jahren Bürgerkrieg zurück nach Hause, wo er seine Frau Dascha (Bibiana Beglau) durch die Revolution ausgelaugt und ermüdet vorfindet. Sie ist in seiner Abwesenheit zur Funktionärin geworden, die sich die Befreiung der Frauen von der Männerherrschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Ihr gemeinsames Kind hat sie ins Kinderheim gegeben, wo es alsbald vor Hunger sterben wird. Nicht nur seine Ehe, auch das Zementwerk, in dem Gleb vor dem Krieg als Schlosser gearbeitet hat, liegt am Boden. Beides versucht der Heimgekehrte wieder in Ordnung zu bringen, die Ehe durch Einfühlung, das Zementwerk durch List und Überwindung der erstarkten Bürokratie. Aber Gleb muss auch mit Kleist, dem bürgerlichen Ingenieur und Verräter, ins Einvernehmen kommen, weil ohne sein Wissen das Zementwerk nicht wieder erbaut werden kann. Ein Balanceakt, auf den sich die junge Sowjetmacht einlässt und der gemeinhin als Übergang vom Kriegskommunismus zur NÖP, zur Neuen Ökonomischen Politik, in die Geschichtsbücher gemeißelt steht. Privates Schicksal, eingebettet in soziale Verwerfungen, beides voneinander abhängig: das Individuum geprägt von der Gesellschaft, die wiederum die Summe der agierenden Individuen ist – revolutionäre Dialektik nach Müllers Manier.
Es ist das alte Thema, das Müller immer wieder bewegt: Wie gelingt es, Kreativität der Massen freizusetzen, um Produktivität zu erzielen. In „Lohndrücker“ und „Die Umsiedlerin“ hat er gezeigt, wie disziplinierte Masse nach dem Krieg produktiv gemacht wurde: durch Disziplinierung. Allerdings sei dann unterblieben, Disziplinierung allmählich in Mitbestimmung und Kreativität umzuwandeln, was letztlich zum Untergang des Sozialismus führte. Die Wurzeln dieses Scheiterns jedoch lagen weiter zurück – in Sowjetrussland, das nach der Revolution von 1917 den revolutionären Weg alleine gehen musste und von der deutschen Sozialdemokratie im Stich gelassen wurde. Also war die Revolution gezwungen, sich auf ein Land zu beschränken – auf Russland, umzingelt vom wiedererstarkenden Kapitalismus, der nichts unversucht ließ, von außen zu zündeln und die Hoffnung der Revolution auf Selbstbefreiung alsbald zunichte zu machen. Die Revolution wurde in die Diktatur getrieben, und der Chor, der zwischendurch seine gesichtsverhüllenden Binden vom Kopf genommen und die Sprache wiedergefunden hatte, wurde als Revolutionstribunal instrumentalisiert – selbstredend wieder gesichtslos und mit einer Stimme (nach)sprechend. So beginnt die Revolution nach und nach ihre eigenen Kinder zu fressen. Und Bibiana Beglau als Dascha fragt verzweifelt: „Wie lange wird es dauern, bis der Mensch ein Mensch ist.“
Bibiana Beglau: neben Valery Tscheplanowa das Ereignis! Ausgemergelt zu Beginn, als ihr Odysseus heimkehrt, ein geschändetes Frauenwrack, das sich gerade noch auf den Beinen halten kann, weil die Revolution alles aus ihr herausgesaugt hat. Mit Gleb jedoch kehrt auch ihre Lebenskraft zurück. Wie eine Spinnenfrau bewegt sie sich graziös-kraftvoll auf dem schrägen Podest abwärts – bis mit Njurkas Tod der Zusammenbruch kommt: ihr Körper ein einziger Schrei, eine Müllersche Medea. Sebastian Blomberg: kraftstrotzende Entschlossenheit zur Veränderung; am Ende doch nur ein Sisyphos, der immer wieder seinen Zementblock die Schräge hinaufschleppt. Diese Bilder voller Körperlichkeit sind es, die Gotscheffs Inszenierung zum Erlebnis machen. Wie er mit Körpersprache und der Sprachvirtuosität der sensationellen Valery Tscheplanowa den leeren Raum füllt. Wie sie den von Gotscheff ans Ende gesetzten Text „Herakles 2 oder Die Hydra“ im Rhythmus von Maschinengewehrsalven als Schnellsprechtext herunterdeklamiert, ist von einer solchen Intensität, dass einem den Atem stockt. Und sie findet auf diese Weise eine Form, die dem alptraumhaften Text tatsächlich zu entsprechen scheint: Herakles verfängt sich im Glauben, die tausendköpfige Hydra zu besiegen, „im Gewirr der Fangarme“, die sich nicht von rotierenden Messern, von explodierenden Minengürteln, Bombenteppichen oder Leuchtreklamen unterscheiden, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass man in der Tat geneigt sein muss, durch den Text zu rasen, um Anschluss zu halten. Erst eine grundsätzliche Entschleunigung, eine grundlegende Umkehr würde es ermöglichen, aus diesem Tentakelgewirr zu entkommen. Denn: „Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus Und Morgen wird gemacht aus Jetzt und Hier.“ „Zement“ ist und bleibt ein Gegenwartsstück und Müller (auch dank Gotscheff) ein Gesamtkunstwerk. Gotscheff montiert auch in seine Zement-Inszenierung Passagen anderer Müller-Stücke, wie „Mauser“ oder „Der Auftrag“ hinein: „Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein“, läßt Gotscheff seinen Gleb Tschumalow am Ende ausrufen, bevor er, ganz Sisyphos geworden, den Betonklotz den Berg hochwuchtet. In jenem Krieg der Landschaften stecken wir mittlerweile seit Jahren fest. Er ist das Erbe des letzten Jahrhunderts. In der Tat: Gotscheff zeigt Müllers Werk als das „Dunkel das uns blendet.“ Und aus diesem Dunkel blickt uns Dimiter Gotscheff ein letztes Mal direkt ins Gesicht. Der Rest wird Schweigen sein…
Die Inszenierung Dimiter Gotscheffs erlebte am 5. Mai 2013 am Münchner Residenztheater ihre Premiere. Mit dieser letzten Regiearbeit Gotscheffs wurde am 2. Mai 2014 das Berliner Theatertreffen eröffnet. Vera Tscheplanowa erhielt zum Abschluss den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.
Schlagwörter: Dimiter Gotscheff, Erik Baron, Heiner Müller, Vera Tscheplanowa, Zement