Dieter B. Herrmann
Nein, nein, es geht nicht um eine möglicherweise zügige Geldentwertung. Um etwas Rasantes allerdings schon. Im Zentrum dieses Beitrages steht ein Geschehen, das rund 13,82 Milliarden Jahre in der Vergangenheit liegt und die Lebensgeschichte des Universums betrifft. Bekanntlich ist damals niemand dabei gewesen – ein Szenario ohne Beobachter. Mit diesem Problem hat es die Kosmologie, die Wissenschaft von der Lebensgeschichte des Universums generell zu tun. Es bleibt nur die Möglichkeit, aus heute gemachten Beobachtungen durch logische Schlussfolgerungen auf der Grundlage unserer sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnisse Aussagen über die fernste Vergangenheit herzuleiten, die sich in ein möglichst konsistentes Gesamtbild einfügen. Anders ausgedrückt: Wir suchen in der Gegenwart nach den oft nur spärlichen Spuren aus der unvorstellbar lange zurück liegenden Zeiten.
Seit langem gilt es als ausgemacht, dass der Kosmos sich ausdehnt. Die Galaxien entfernen sich von uns, je weiter umso schneller. Ihre gegenseitigen Abstände werden immer größer. Doch dies sind gleichsam nur die Indikatoren dafür, dass der Raum selbst expandiert. Diese Entdeckung vom Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts bildete den Anstoß für die Entwicklung des so genannten Urknall-Szenarios: Aus einer unvorstellbar dichten, winzigen und heißen „Ursuppe“ soll sich das gesamte Weltall entwickelt haben, wie wir es heute kennen. Viele Beobachtungen sprechen dafür. So müsste man noch heute etwas von der Strahlung finden können, die dereinst das extrem kleine Universum beherrschte, meinten Forscher bereits 1948. Allerdings sind die Temperaturen im Weltall durch dessen Expansion so weit gesunken, dass die Temperatur dieses über das gesamte Weltall verteilten Photonengases heute nur noch rd. 3 Kelvin betragen dürfte, das heißt rund minus 270° Celsius. Erst 1964 gelang es, diese „3-Kelvin-Strahlung“ (Hintergrundstrahlung) im Bereich der Mikrowellen tatsächlich nachzuweisen und damit zugleich eines der stärksten Argumente für die Richtigkeit des Urknall-Szenarios zu finden. Auch andere Entdeckungen passten hervorragend ins Bild. So hatte man bereits 1948 ein kurzes Zeitfenster nach dem Urknall berechnen können, das für die Bildung von Wasserstoff- und Helium-Atomen entscheidend war. Kurz wegen des engen Temperaturbereichs, in dem sich diese Bildung nur vollzogen haben konnte. Das Ergebnis brachte genau jenes Verhältnis zutage, in dem Wasserstoff und Helium im gesamten Universum tatsächlich vorkommen: 1:3. Da Wasserstoff und Helium zusammen genommen 99 Prozent aller Elemente des Universums ausmachen, konnte man das als eine wissenschaftliche Großtat verbuchen, die ebenfalls zugunsten des Urknall-Szenarios sprach.
Doch andere Beobachtungsbefunde blieben unverstanden, manche sagten sogar, sie ständen im Widerspruch zum Urknall-Modell und ließen Zweifel an dessen Richtigkeit aufkommen. Da ist zum Einen die Flachheit des Universums. Die Winkelsummen dreier Punkte im Universum betragen stets 180°, wie unsere Schulweisheit es für ebene Flächen lehrt. In gekrümmten Räumen würde dieser Elementarsatz nicht gelten. Doch warum ist das Universum flach und nicht gekrümmt? Zum anderen kennen wir inzwischen die kosmische Hintergrundstrahlung sehr genau. Sie ist das älteste Dokument aus der Geschichte des Universums und stammt aus der Zeit 380.000 Jahre nach dem Urknall, als das Weltall durchsichtig wurde. Von ganz geringen Temperaturschwankungen im Bereich von einigen Millionstel Grad abgesehen, erreicht uns von überall her dasselbe Bild. Wie kommt das? Die Materie von zwei am Himmel gegenüber liegenden Stellen war sich wegen der Expansion niemals so nahe, dass ein Lichtstrahl sie hätte miteinander verbinden können. Warum haben sie dann trotzdem die gleiche Temperatur? Um solchen Schwierigkeiten zu entgehen, entwickeln Theoretiker mitunter eine blühende Phantasie. So der US-amerikanische Kosmologe Alan H. Guth. Er schlug im Jahre 1981 eine „inflationäre Phase“ der Expansion des Universums vor. In der kurzen Zeit zwischen etwa 10-35 und 10-33 Sekunden nach dem Urknall soll sich das Universum um einen Faktor von mindestens 1026 ausgedehnt haben! Ein winziges Gebiet von anfangs Stecknadelkopfgröße erstreckte sich danach über eine Region von Hunderten Milliarden Lichtjahren Durchmesser. Aberwitzig! Bevor die Inflation begann, stand alles mit allem in Kontakt und hatte deshalb auch die gleichen Eigenschaften, die dann in die Tiefen des Raumes exportiert wurden. Deshalb kommt heute aus allen Richtungen die gleiche Information zu uns. Und wie bei einem Luftballon, den man immer stärker aufbläst, verschwand auf diese Weise auch die ursprüngliche Krümmung und das Universum wurde flach. Winzige Quantenfluktuationen wurden durch die kurzzeitige rasante Expansion ins Makroskopische übertragen und bildeten jene Dichteunterschiede, die später zur Verklumpung der Materie und damit zur Entstehung von Galaxien und Galaxienhaufen führten. Die Inflationshypothese erklärt auf diese Weise zwei wichtige Beobachtungsbefunde, die zuvor nicht verstanden wurden. Doch muss die Inflation deshalb auch tatsächlich stattgefunden haben? Kann es sich nicht dennoch um ein Hirngespinst handeln? Wer sagt uns überhaupt, ob unter den extremen Verhältnissen des „Babykosmos“ dieselben Naturgesetze geherrscht haben, wie wir sie heute kennen?
Nun kommt G=0,2 ins Spiel, die ominöse Zahl aus der Titelzeile. Es handelt sich um eine Entdeckung, die am 14. März 2014 gemeldet wurde und weltweit Aufsehen erregte. Von einem bevorstehenden Nobelpreis war gar die Rede. Dazu muss man wissen, dass wichtige Informationen nicht nur aus der Intensität und Frequenz elektromagnetischer Wellen gewonnen werden können, sondern auch in deren Polarisation verborgen sind. Normalerweise schwingen elektromagnetische Wellen in allen Richtungen. Doch durch Reflexion oder Streuung kommt es zur Polarisation, das heißt, bestimmte Schwingungsrichtungen werden eliminiert und andere bevorzugt. Die Dichteschwankungen im frühen Universum sind aber nur eine der Ursachen für die Unregelmäßigkeiten der kosmischen Hintergrundstrahlung. Eine andere stammt von möglichen Gravitationswellen. Wo sich im Kosmos Massen bewegen, entstehen nach Einstein Gravitationswellen, die zwar indirekt bereits nachgewiesen, aber noch nie direkt festgestellt werden konnten. Gravitationswellen sind quasi Änderungen in der Raum-Zeit-Struktur. Sie breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Sowohl Dichteschwankungen als auch Gravitationswellen bewirken eine Polarisation der Hintergrundstrahlung, aber jeweils unterschiedliche. Die eine nennt man die E-Moden, die andere die B-Moden. Die B-Moden können einzig durch Gravitationswellen hervorgerufen werden.
Würde man das Verhältnis dieser beiden Polarisationsarten messen können – nennen wir es G –, so wüssten wir, welche Rolle Gravitationswellen im frühen Universum gespielt haben. Nun sind Theoretiker davon überzeugt, dass die inflationäre Phase der Expansion starke Gravitationswellen ausgelöst hat, deren Auswirkung auf die Strahlung man feststellen sollte, um über eine stattgefundene inflationäre Expansion zu entscheiden. Genau dies scheint jetzt gelungen zu sein und zwar dank eines Spezialteleskops mit dem Namen BICEP2 (Background Imaging of Cosmic Extragalactic Polarization). Es steht am Südpol der Erde in 2.800 Meter Höhe über dem Meeresspiegel und agiert in extrem trockener Luft, wodurch Mikrowellen besonders gut detektiert werden können. Das Verhältnis der E-Moden zu den B-Moden wurde zu G=0,2 bestimmt. Das ist für Kenner ein erstaunlich hoher Wert, der eine ganze Reihe von Varianten der Inflationstheorie aus dem Rennen wirft. Doch sprechen die Messungen jedenfalls dafür, dass es eine inflationäre Phase in der Geschichte des Universums tatsächlich gegeben hat. Zudem wurden damit auch – wiederum indirekt – Gravitationswellen nachgewiesen, da nur diese für den gemessenen Anteil an B-Moden in Frage kommen.
Die Entdeckung könnte die künftige Entwicklung der Kosmologie maßgeblich beeinflussen. All ihre Konsequenzen sind im Augenblick noch kaum zu überblicken. Allerdings sollte man trotz aller Medieneuphorie auch einen kühlen Kopf bewahren. Die Planck-Mission der ESA hat ähnliche Untersuchungen durchgeführt, aber noch nicht ausgewertet und veröffentlicht. Es gilt also abzuwarten, ob auch diese Daten das sich jetzt abzeichnende Bild des frühesten Universums bestätigen. Theoretiker weisen außerdem d darauf hin, dass man nicht völlig sicher sein kann, ob die Gravitationswellen, die sich in der B-Polarisation der Hintergrundstrahlung widerspiegeln, tatsächlich eindeutig mit der Inflation des Universums zusammenhängen. Es bleibt also noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Doch sollte sich das Ergebnis bestätigen, dann dürfte der 14. März 2014 als ein großes Datum in die Wissenschaftsgeschichte eingehen. Es wäre immerhin erstmals gelungen, einen indirekten Blick bis extrem kurz vor den Urknall zu werfen. Dennoch sollten wir Georg Christoph Lichtenbergs Erkenntnis nicht vergessen: „Nichts setzt dem Fortgang der Wissenschaft mehr Hindernis entgegen, als wenn man zu wissen glaubt, was man noch nicht weiß.“
Schlagwörter: Dieter B. Herrmann, Hintergrundstrahlung, Kosmologie, Universum, Urknall