17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Das Doppeltalent Ernst Barlach

von Mathias Iven

Fällt der Name Ernst Barlach, dann hat man sicherlich zuerst Bilder seiner Plastiken vor Augen. Dass sein literarisches Schaffen ebenbürtig neben Hunderten von Skulpturen und Zeichnungen stand und steht, wissen nur die Wenigsten. Über fast fünf Jahrzehnte hinweg entstanden immerhin acht Dramen sowie mehrere Romane. Hinzu kommen Tagebücher, kleinere Prosastücke, kunsttheoretische Betrachtungen und weit über 2000 Briefe.
Gab es in früheren Zeiten bereits erste Ansätze dafür, Barlachs schriftstellerisches Werk dem Vergessen zu entreißen (neben verschiedenen Einzelausgaben sei hier vor allem an die fünf Bände umfassende Edition des Piper-Verlages erinnert), so ist es in den letzten Jahren vor allem die 1946 gegründete Hamburger Ernst Barlach Gesellschaft, die sich um eine Neuausgabe bemüht. So erschien im Jahre 1997 im Leipziger Seemann Verlag zunächst Barlachs Autobiographie Ein selbsterzähltes Leben. Zwischen 1998 und 2002 wurde dort in einem weiteren Schritt das dramatische Werk in einer dreibändigen, umfangreich kommentierten Ausgabe vorgelegt. Parallel dazu begannen die Arbeiten an einer auf zehn Bände angelegten kritischen Edition der Prosa- und Nachlasswerke, deren erste Bände 2006 veröffentlicht werden konnten. Seither ist diese verlagsunabhängige, von der Barlach-Gesellschaft in Eigenregie herausgegebene Ausgabe bereits auf acht Bände angewachsen und steht somit kurz vor ihrem Abschluss.
Zu verdanken ist das vor allem einer Person: dem 1939 geborenen Hamburger Literaturwissenschaftler Ulrich Bubrowski. Mit Akribie und nicht nachlassendem Eifer widmet er sich der Veröffentlichung von Barlachs schriftlicher Hinterlassenschaft in „authentischer Textgestalt“. Jüngstes Ergebnis ist der gut 900 Seiten umfassenden Band Kleine Schriften. Ein Ereignis, das bisher leider nur am Rande des Literaturbetriebes wahrgenommen wurde. Zu Unrecht!
Weit mehr als zweihundert Arbeiten versammelt der Band, wovon die Hälfte zum ersten Mal erscheint (warum das in den Anmerkungen nicht entsprechend ausgewiesen ist, sei dahingestellt), demgegenüber aber – was beabsichtigt war – knapp ein Viertel bereits Eingang in die weiterführenden Erläuterungsapparate der bisherigen Bände gefunden hat. Oft sind es nur Fragmente, in mehreren Fällen findet man neben der Erstfassung auch spätere Bearbeitungsstufen beziehungsweise Druckfassungen. Die frühesten Texte, drei von Barlach selbst zur Veröffentlichung gebrachte Miniaturen aus der Dresdner Zeitung, entstanden zur Jahreswende 1891/92 – bemerkenswert ist hier eine in der Machart sehr interessante Besprechung zu einem Buch der nur noch wenigen Kennern bekannten schleswig-holsteinischen Schriftstellerin Luise Schenck (einer Cousine von Barlachs Mutter). Das in der zeitlichen Reihenfolge letzte Schriftstück ist auf den 29./30. Juli 1937 datiert und beschäftigt sich mit dem Barlach angedrohten Berufsverbot.
Selbstredend dachte Barlach immer wieder über seine Arbeit und das Anliegen seines Schaffens nach. So liest man in einer kunsttheoretischen Überlegung vom April 1903: „Ich finde, wer Ästhetik ihrer selbst wegen betreibt, der thut etwas wie Sünde wider den heiligen Geist. – Kunst = Schönheitstrieb der höheren Töchter. […] Ich dagegen will: Weiligkeit, Sammlung, Freude, Wahrheit und Vollendung. –“ Drei Jahre darauf findet sich in seinen Aufzeichnungen die Formulierung: „Der reine Künstler ist ein Unding-mensch. Er wird erst voll wenn der Mensch hinzukommt.“ Diese Haltung bestimmte auch Barlachs Antwort auf eine 1926 veröffentlichte Umfrage zum Thema „Dichtung und Christentum“, wo er bekannte: „Ob Christentum – ob keins –, es kommt mir nur auf den Menschen an.“ Und schließlich wurde diese Aussage 1931 im Sinne eines künstlerischen Credos wie folgt von ihm präzisiert: „Doch gehöre ich zu den gläubigen Menschen, deren Letztes allerdings sich nicht in Worte bringen ließe, indem ich der Überzeugung bin, daß die mir gegebene Sprache und Darstellung – wenn auch stammelnderweise – von Etwas zeugt, das vom Wort, von Wille, Verstand und Vernunft überhaupt nicht berührt wird.“
Soweit nur ein ganz kurzer Einblick in die uns von Ulrich Bubrowski geöffnete und zum Nachdenken einladende Barlachʼsche Schreibwerkstatt. Man darf gespannt sein auf die noch ausstehenden Bände mit Barlachs Tagebuchaufzeichnungen und anderen autobiographischen Schriften, vor allem aber auf den für das Verständnis seines Schreibens unabdingbaren, die vier Bände Autobiographisches erläuternden Kommentarband.

Ernst Barlach: Kleine Schriften (Kritische Ausgabe in der Fassung der Handschrift, hrsg. von Ulrich Bubrowski), Ernst Barlach Gesellschaft, Hamburg 2013, 909 Seiten, 89,90 Euro.