17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Eine Zukunft des Lesens

ausgespäht von Jan Meier

1.
Ich stelle hier die Fragen. Und die Frage hier ist nicht, was werde ich, sondern wie werde ich was lesen in, sagen wir mal, 100 oder 200 Jahren. Wie werde ich meinen Sarrazin, meinen King, Küng, Dan Brown, Wolfgang Hohlbein und Pater Anselm Grün lesen, wie und womit?
Vorausgesetzt, ich lese überhaupt noch was. Vielleicht bestelle ich mir auch bei Douglas-Adams-Electronics den Elektrischen Mönch mit Zusatzmodul. Der nimmt mir die leidige, eintönige Alltagslast des Schmökern ab, liest für mich dann alles nur Mögliche und mit dem Hauptmodul glaubt er dann das alles, was er gelesen hat. Das Modell „Elektrischer Mönch-deluxe“ glaubt sogar zusätzlich alles, was selbst katholische CSU-Wähler im Bairischen Wald nur mühsam glauben könnten.
Also. Wie werde ich, wenn, was lesen? Das ist eine gute Frage, nicht wahr? „Das ist eine gute Frage“ ist zwar keine gute Antwort, aber stellen wir sie mal so in den Raum, zum Spaß, weil Ostern ist.

2.
Ich war ein Landei. Meine Großmutter war, wie viele Großmütter damals, ohne eigenes Verschulden bettelalt, aber ehrlich und belesen. Jeden Abend, im Bett, rief sie: Bub, bring mir das Buch. Ich war ein gewiefter Knabe und wusste schon damals, was ein und das Buch war. Ich brachte ihr also den 80-seitigen Neckermann-Katalog und sie las darin bis sie einschlief.
Ich frage mich, was meine Großmutter heute sagen würde. Sagte sie etwas wie: Bub, loade mir down das eBook? Und dann müsste ich ihr beichten, dass Springreiter Neckermann es am Ende nicht geschafft hat über das Bein, das ihm US-Spekulanten gestellt hatten.
Als ich dann Ende der Sechziger anfing Sinologie zu studieren, hätte ich es nett gefunden, ein eigenes Buch in Chinesisch zu kriegen; kein Buchhändler damals, weder Foyles in London noch Wei-Shudian in Hongkong lieferten was, nicht mal einen Billigdruck von Konfuzius oder Laozi. Ich musste wie alle anderen auf der Warteliste in der Seminarbibliothek ausleihen.
Jetzt, bloß 40 Jahre später, setze ich mich an den Rechner, und kann auf der chinesischen Suchmaschine www.baidu.com innerhalb von 20 Sekunden Wartezeit hunderterlei Ausgaben von allem nur möglichen auswählen. Wie hätten Sie es denn gern, das Kongzi Daxüe, das Laozi Daodejing, in pdf, als epub, rtf, lib2, djvu oder doch lieber in mobi?
Mein Gott, das ist nicht Gegenwart, das alles ist Science Fiction, oder?
Die namhaften deutschen Verleger haben diese Entwicklung souverän überschlafen. Gut gerüstet für die Ewigkeit dank Buchpreisbindung nickten sie zwanzig Jahre lang zur Musik des Neoliberalismus und dachten, diese Musik spielt allen mit, ausgenommen dem deutschen Buch, dem deutschen Wald und der deutschen Apotheke.
Alleinige Gewinner der Entwicklung sind die ganz großen Hardwaredealer. Ein eBook-Reader kostet ziemlich stabil zwischen 100 und 300 Euro, und zwar bei Gewinnspannen von gut 300 Prozent. Die Produktionskosten im Standort China liegen bei 30 Dollar, und recht viel mehr sind die Reader auch wirklich nicht wert. Ich benutze selber so ein Gerät und weiß wovon ich rede. Für eine eBook-Datei dagegen kann nicht mal Amazon mehr als zehn Euro verlangen, der Trend geht eher zu fünf Euro abwärts.
Für Autoren ist das nicht unbedingt so schlimm. Bei Druckbüchern galt früher die Drittelung – ein Drittel der Buchhandel, ein Drittel der Großhandel, ein Drittel der Verlag. Und von dem Verlagsdrittel gabs dann für die Platzhirsche der Autoren-Szene 10 Prozent, für die no-names, die ihr Manuskript so dringend los werden wollten als müssten sie aufs Töpfchen, für die gabs 3 Prozent, nix oder weniger als nix, nämlich eine Druckkostenbeteiligung.
Autoren können sich heute die Druckkostenbeteiligung sparen und bei www.lulu.com bei www.neobook.com oder bei www.bookrix.com zu halbwegs akzeptablen Bedingungen selbst verlegen und vermarkten. Sogar Kindle unter dem Dach von Amazon lockt potentielle Autoren mit anscheinend fairen Konditionen, aber ich möchte nichts zu tun haben mit großen Internetfirmen, die ihre ganzen Kundendatenbanken und Unterlagen in den USA lagern. Aber das ist meine Sache, kein Rat für andere.
Reich wird auf die Weise kein Autor, früher nicht und so auch nicht. Aber wenn du Glück hast, klaut dir irgend ein Uploader auf Rohstoffsuche dein von dir verfasstes eBook, lädt es hoch auf www.rapidshare.com oder www.uploaded.net, bringt es unters Publikum und macht für dich kostenlos gute Reklame. „Ṣeyh ucmaz, müridi ucurur“, heißt ein türkisches Sprichwort. Der Scheich fliegt nicht, er lässt für sich fliegen.
Wenigstens diesen Trend hat der deutsche Buchhandel nicht überschlafen, sondern ein Hiobsgeschrei alttestamentarischen Ausmaßes über verlorene Besitzstände, Eigentum, Copyright und Urheberrecht begonnen. Der Ruf nach dem starken Arm des Staates aus dem Munde neoliberaler Fundamentalisten ist so absurd wie jodelnde Japaner in Lederhosen, zeigt aber Wirkung. Soweit der Arm deutscher Justiz reicht, geht es den Filesharing-Börsen und Hostern an den Kragen. Sie erwartet das Schicksal von „megaupload“ und „hotfiles.com“, die keine größeren Verbrechen begingen als Sachen weiterzuverschenken, für die sie selber auch nichts bezahlt hatten, und dafür vom FBI gejagt und liquidiert wurden.
Der legendäre Schweizer Hoster „Rapidshare AG“ hat 2013 seine Prozesse verloren, muss vermutlich seine Server weitestgehend löschen oder Geschäftsziel und Standort wechseln. Auch Uploaded.ch wackelt, und die ersten Uploader gehen derzeit mit ihren Schätzen schon mal zu anderen Hostern, bevor alles zusammenkracht.
Und hier wird es richtig spannend. Das Gesetz lautet: wer eLesen will muss eBezahlen, mit Paypal, Bitcoin oder Mastercard – wobei Bares immer noch am lautesten lacht. Also: wer nicht zahlt soll auch nicht lesen, und wer raubkopiert muss sitzen.
Ist das so in Zeiten des globalen Internets? Die Milliardäre der US-Unterhaltungsindustrie mit ihren Superleute-Filmen, Sprechgesangs-CDs und PC-Egoshootern, haben unvorstellbare Summen ausgegeben, um immer gemeinere Kopierschutzarten zu entwickeln und sich parlamentarische Mehrheiten zu kaufen, die ihnen immer absurdere Urheberrechtsgesetze verabschieden. Nicht einen einzigen Dollar mehr haben sie damit verdient, nachweislich. Steve Jobs, der begnadete Apple-Chefprogrammierer, macht sich noch von seinem Grab aus hörbar lustig über die sinn- und wirkungslosen Kopierschützer der Medienindustrie.
Wenn ein Teenager 50 Euro Taschengeld hat, dann hat er eben bloß 50 Euro zum ausgeben, mit Gesetz und ohne Gesetz, er kopiert sich was und tauscht es mit seinen Freunden. Und wenn einer 3.000 Euro verdient, dann kauft er sich den Film, die CD oder das Konsolenspiel, wegen der hübschen Originalverpackung, dem Begleitbuch und dem vorzeigbaren Kultstatus; und weil all die teuren Sachen bloß auf billigste Rohlinge gepresst sind, macht er sich eine Sicherheitskopie auf Festplatte, mit Slysofts AnyDVD, Fengtao’s DVDFab oder Alcohol120%, und zwar mit und ohne Zwangsgesetzgebung. Genauso funktioniert freie Marktwirtschaft, die doch unsere Staatsreligion ist.
Also was macht nun einer, der was lesen möchte, ohne sich mit dem Marktführer Amazon, der ja wirklich so ziemlich alles zu verhökern hat, rumzuärgern?
Amazon hat seinen Hauptgeschäftssitz in den USA, seine Kundendatenbanken und lückenlosen Marktanalysen liegen dort und stehen daher laut „Patriot Act“ den US-Geheimdiensten uneingeschränkt zur Verfügung. Möchte ich der NSA meine Personalia bis runter auf Molekularebene offenbaren müssen, damit ich für 2,99 Euro eine PDF-Datei kaufen kann? Ich weiß ja nicht, ob ich das wirklich möchten muss.
Dann also auf zu den kleineren deutschen Mitbewerbern? Weltbild.de, buch.de, buecher.de, thalia.de, wie auch immer? Weil aber scheinbar keine müde Mark und kein satter Euro zu machen ist mit deutschen eBooks, ist deren Sortiment so schäbig und unansehnlich wie Hasenkekel, dass man laut lachen könnte, wenns nicht so traurig wäre.

Wird fortgesetzt.

Jan Meier ist Programmierer und Übersetzer. Er lebt in Berlin.