17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Neues aus der Merkelei

von Erhard Crome

Eine Woche vor Weihnachten, am 17. Dezember 2013, ist Angela Merkel erneut zur Bundeskanzlerin gewählt worden. Das war, so hatten Statistik-Freunde rasch ausgerechnet, die am längsten dauernde Regierungsbildung in der BRD und in Deutschland seit 1980: Der Durchschnitt liegt bei 40 Tagen, diesmal waren es 86. Hauptsächlich lag dies an der Mitglieder-Abstimmung in der SPD, die am Ende allerdings planmäßig so ausgegangen war, wie es Kenner der Innereien dieser Partei von Anfang an vorausgesagt hatten: Die Mitglieder stimmten zu. Damit war die dritte „Große Koalition“ – neuerdings GroKo abgekürzt – in der BRD- beziehungsweise neueren deutschen Geschichte eingetütet.
Die einen lobten die Mitglieder-Beteiligung der SPD als bedeutsamen politischen Vorgang. Ob er das demokratietheoretisch tatsächlich ist, bleibt fraglich. Wenn sich eine Partei auf die gesatzte Ordnung der repräsentativen Demokratie einlässt, muss sie nach der Wahl auch handlungsfähig sein, wenn es um die Regierungsbildung geht. Und inwiefern eine Parteimitgliedschaft höherrangig agieren können soll, als die Millionen Wähler mit ihrem Votum, ist eine weitere Frage. Parteipolitisch war es erklärbar: Die Parteiführung der SPD musste Zaudern simulieren, um Mitgliedern und Anhängern den Schwenk vom Wahlkampf gegen Merkel zum Regieren mit ihr schmackhaft zu machen – eine „nationale Verantwortung“ war diesmal, im Unterschied zu 1966 und 2005, nicht geltend zu machen. Damals war es der Wille zu den Notstandsgesetzen, die eine verfassungsändernde Mehrheit brauchten. Und 2005 das kommunistische Teufelswerk in Gestalt der Linken, die mit Oskar Lafontaine und Gregor Gysi wieder in den Bundestag eingezogen war, so dass es weder für SPD-Grün noch für Schwarz-Gelb reichte. Dieses Mal hatten CDU und CSU die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt, und die Grünen hatten signalisiert, dass sie für eine Regierungsmehrheit im Bund ebenfalls bereitstehen. So wie sie es in Hessen mit dem vorher laut verschrienen Volker Bouffier von der CDU jetzt praktiziert haben. Analog war es auch von Seiten der SPD nur der reine Wille zum Regieren – „Opposition ist Mist“, tönte einst Vorturner Müntefering –, der die Parteispitze trieb.
Andere monierten den Stillstand, der sich in diesen 86 Tagen manifestierte. Einerseits: Was für einen Stillstand? Merkel war weiter geschäftsführend im Amt, die alte Bundesregierung nahm alle anstehenden Termine wahr. So gesellte sich Guido Westerwelle in Kiew zu den Anti-Regierungs-Demonstranten; hätten die Wellen der Verärgerung höher geschlagen, konnte die neue Regierung immer noch erklären, dafür sei sie nicht verantwortlich zu machen gewesen. Da sich der Protest gegen diese undiplomatische Aktion in Grenzen hielt, verpuffte sie, aber die FDP hatte ein letztes Aufflackern politischer Regsamkeit gezeigt. Umgekehrt hat Sigmar Gabriel auf seiner ersten Reise als neu installierter Wirtschaftsminister nach Brüssel am 18. Dezember die EU-Kommission beschimpft, weil sie gegen die von der vorherigen Bundesregierung eingeräumten Ausnahmen für die deutsche Industrie von der Ökostromumlage vorgehen will. Den Sprechzettel hatte wahrscheinlich sein Vorgänger Philipp Rösler auf dem Schreibtisch liegen lassen. Und Gabriel hatte ihn genauso vorgelesen. Wenn der Kern der Politik die Stärkung der deutschen Exportindustrie im besonderen und Beförderung der neuen deutschen Rolle als Großmacht in der Welt ist, so zeichnet sich Angela Merkels Politik seit 2005 durch eine hohe und zielsichere Kontinuität aus.
Andererseits: Aber doch Stillstand? Ja, selbstverständlich, wenn es um die Möglichkeiten des Parlaments geht! Die Fraktionen der Mehrheitsparteien sind den beiden Oppositionsparteien in Sachen Rederecht im Parlament zum Beispiel nur marginal entgegen gekommen. Wie es mit Untersuchungsausschüssen und anderen parlamentarischen Üblichkeiten sein wird, muss sich erst noch zeigen. Das heißt die kontinuitätsorientierte Merkel-Politik kann jetzt noch besser, geräuschloser und effizienter durchgesetzt werden, als mit den dilettantischen Politikern von der FDP in der vergangenen Wahlperiode. Gregor Gysis Reden werden rhetorische Höhepunkte in einem Parlamentsalltag sein, der eher der früheren Volkskammer der DDR als dem Bundestag der 1970er Jahre gleicht, als sich Franz Josef Strauß und Herbert Wehner heftige Wortgefechte lieferten. Und hinzu kommt: Wann immer moniert wird, dass eine Entscheidung oder ein Gesetz dieser Bundesregierung nicht dem Grundgesetz entspricht, kann diese sofort und unverzüglich eben dieses Grundgesetz ändern. So, wie es gebraucht wird, im Sinne der gemachten Politik.
Hier ist ein vergleichender Blick auf die herrschaftstechnischen Bedingungen der drei GroKos angebracht. Die Kiesinger-Regierung (1966-1969) hatte 447 Abgeordnete in einem Bundestag, der 496 Mitglieder zählte, die oppositionelle FDP 49 Sitze. Das waren 9,9 Prozent der Abgeordneten. Die Regierung Merkel I (2005-2009) hatte 448 Sitze (von 614), die drei Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne 166. Das waren immerhin 27 Prozent der Mandate. Die jetzige Regierung, Merkel III, hat 504 Abgeordnete (von 631), die Opposition, Linke und Grüne, 127. Das sind 20,1 Prozent der Mandate. Im Sinne ihrer parlamentarischen Möglichkeiten scheint die Stärke der Opposition eher der von 1966 als der von 2005 zu ähneln.
Eine der viel gestellten Fragen ist die nach der Haltbarkeit der Koalition. Die SPD-Führung würde ihr Gesicht verlieren, wenn sie ohne wirklich triftigen Grund die Koalition platzen ließe, zumal Angela Merkel ja in Gestalt der Grünen einen anderen Partner hätte. Und – je lautloser die schwarz-grüne Regierung in Hessen funktioniert, desto größer der Druck auf die SPD. Nach allen Umfragen käme bei Neuwahlen nichts anderes heraus, als das Wahlergebnis vom 22. September 2013 gebracht hat. Jedenfalls hätte die SPD nichts zu gewinnen.
Bleibt die CSU. Just zum Jahreswechsel füllten laute Dispute zwischen dieser und der SPD in Sachen EU-Integration und des Status’ von Rumänien und Bulgarien die Medien. Aber hat die CSU überhaupt mehr politische Spielräume, als lautes Gelärme oder die Versuche des Großen Vorsitzenden, Entscheidungen der Kanzlerin vorab zu beeinflussen? Konnte sie in der Regierung Merkel II (2009-2013) immerhin den Bundesinnenminister stellen, so hat sie jetzt die Ministerien für Landwirtschaft, Verkehr und Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Hier ist neben der spezifischen Zuständigkeit der verschiedenen Minister zu berücksichtigen: Die Kanzlerin hat die „Richtlinienkompetenz“ innerhalb der Bundesregierung. Darüber hinaus gibt es drei „besondere“ Ministerien, deren Kompetenz in die Tätigkeit der anderen Ressorts hineinreicht: Der Finanzminister legt den Haushaltsentwurf vor, und alle anderen Minister müssen bei ihm ihre Budgets anmelden; der Justizminister prüft und bestätigt sämtliche Gesetzentwürfe, die aus den Ministerien kommen, auf ihre Rechtsförmigkeit, bevor sie von der Bundesregierung im Deutschen Bundestag eingereicht werden, und der Innenminister prüft die Gesetzentwürfe parallel dazu auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und ihre „Verwaltungsförmigkeit“. In der ersten GroKo war der CSU-Vorsitzende Strauß Finanzminister, in der zweiten hatte die CSU die Ministerien für Wirtschaft und Landwirtschaft – keines der drei besonderen, aber immerhin das seit Ludwig Erhard als bedeutsam geltende für Wirtschaft. Mit einem offenen Aufbegehren der CSU ist nicht zu rechnen. Das hatte schon Strauß durchrechnen lassen: Träte die CSU bundesweit an, würde sie am rechten Rand auf Bundesebene hinzugewinnen, aber in Bayern – weil dort dann auch die CDU ins Rennen ginge – einen Teil der bürgerlichen Wählerschaft verlieren. Und damit verlöre die CSU ihren Sonderstatus, „die bayerische Volkspartei“ zu sein, die „normalerweise“ eine absolute Mehrheit erhält.
Kurzum: Angela Merkels Kanzlerschaft ist jetzt – wenn nicht eine neue Weltwirtschaftskrise Deutschland in einen Strudel reißt – für die nächsten vier Jahre festgezurrt. Die Machtverhältnisse im Lande sind so verteilt, dass keine politische Alternative, nirgends, zu sehen ist, die ernsthaft auf Wählermehrheiten in diesem real existierenden Deutschland rechnen kann. SPD und Grüne kämpfen nicht mehr um eine Alternative zu Merkel, sondern um eine „bessere Politik“ mit oder genauer: unter ihr. Ist eigentlich schon jemandem aufgefallen, dass die Ressorts, die für die „Energiewende“ zuständig sind, im Bund bei den Sozialdemokraten und in Hessen bei den Grünen liegen? Wenn es nicht klappt, sind immer die anderen schuld. Und in der GroKo von Merkel I war die SPD schon einmal drastisch abgestürzt, von 34,2 auf 23 Prozent.