16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Schwebezustand

von Renate Hoffmann

Pompeji in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München. Die Naturkatastrophe von 79 n.Chr. ersteht aufs Neue, mit all ihren Schrecken und mit der untergegangenen hohen Kultur. Dem Vesuv und der vulkanisch unterminierten Landschaft am Golf von Neapel wird die Geschichte geschrieben; ebenso den Geschehnissen der Augusttage des Vulkanausbruchs und ihren Folgen. Etwa 260 Schaustücke aus den Bergungen der Städte Pompeji, Herculaneum und dem Umfeld führen mitten hinein in die Lebenswelt ihrer ehemaligen Bewohner, die, erstickt, begraben unter meterhohem Eruptionsgestein, Jahrhunderte ruhten. In der Ausstellung vermeint man, ihnen leibhaftig  zu begegnen.
Gebrauchsgegenstände, Skulpturen, Mosaiken in feinster Manier, Wandgestaltungen, Schmuck. Auch ein verkohlter Brotlaib, auch ein mahnendes Bodenmosaik, das in seiner Aussage nachdenklich stimmt. Aug’ in Auge mit einem Skelett, welches Wasser- und Weinkrug schwenkt. Den Tag nutzen – und genießen! ist wohl die verborgene Botschaft. Ich nehme sie als klugen, nachahmenswerten Wink aus der Vergangenheit entgegen.
Das Teilstück 9295 aus dem Museo Archeologico Nazionale di Napoli ergänzt auf wundersame Weise den Sinngehalt der geheimen Botschaft: Die vier Schwebenden Tänzerinnen aus der sogenannten Villa Cicerone in Pompeji. Eine Wandmalerei, zu einem Fries gehörend, in dem ursprünglich zwölf der Schönen tanzten. Anmut, Grazie, erotischer Hauch und wehende Schleier umspielen die schlanken Wesen in Sprung und Drehung. – August von Rode (1751-1837), Dessauer Kabinettsrat, schrieb als begeisterter Betrachter der Abbildungen: „Diese angenehmen Gestalten sind als in der Luft schwebend vorgestellt und wurden  […] nahe dem Platze, wo man das alte Pompeji vermuthet (gefunden). Sie […] machen eine Anzahl von 12 Stück aus, und sind auf schwarzem Grund gemalt. Ihre Gewänder scheinen so leicht als Träume zu sein.“
Diese traumhaften, feinen Gespinste flattern in Rosé, Zartblau und gedämpft-fliederfarben  um die Trägerinnen. Blumen und Bänder im Haar erhöhen deren Eleganz. Eine von ihnen trägt, trotz des Schwebens, einen Blumenkorb auf dem Kopf. Erstaunlich, wie leicht ihr das gelingt. Sie schwankt nicht, stürzt nicht, keine Blüte fällt. Wie oft mag sie es geübt haben, das Balancieren mit dem Körbchen. Wie oft wohl hat der Tanzmeister gemahnt: Livia, du Schöne, bewahre Haltung und nimm die Schultern zurück. – Nun gleitet sie könnerhaft, ohne ihn zu berühren, über den Boden. Die zierlichen Füße tragen Sandalen. Verlockend, verführerisch. Flöten spielen auf, ein Tamburin gibt den Rhythmus an. Die vier drehen sich umeinander, miteinander, streben auseinander. Man sorgt sich, sie  könnten beim Tanze Rahmen und Raum verlassen. Und entschweben… Wohin? In den bunten Zug des Dionysos als Mänaden? Oder als Sylphiden in die Lüfte? Oder – was wirklich geschah – in das Dessau-Wörlitzer Gartenreich.
Reisenotiz: Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740-1817) begibt sich mit seinem Stararchitekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und einer Reisegesellschaft 1765 für zwei Jahre auf die „Grand Tour“. Italien gehört zum Pflichtprogramm. Franz, in Rom vom Geist der Antike aufgesogen, begegnet dort Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), dem Herrn mit der „Edlen Einfalt und der stillen Größe.“ Unverzüglich machen sie sich auf den Weg nach Neapel und den Ausgrabungsstätten. Denn es hatte sich herumgesprochen, dass in Pompeji und Herculaneum etwas Außergewöhnliches zutage kam.
Eintreff: März 1766; Verbleib am Ort: mehr als zwei Monate. Die Gesellschaft wird Zeuge, wie man die verschwundene Hochkultur aus der „Asche“ hebt. Fürst Franz, tief beeindruckt vom Gesehenen, beschließt, die Anregungen in seinem heimatlichen Ländchen umzusetzen.
Problem Nr. 1: Der König von Neapel und Beider Sizilien verbot strikte jede Dokumentation der Funde. Alleinige Veröffentlichungsrechte erhielt die Accademia Ercolanese di Archeologia. Diese gelehrte Anstalt brachte 1757 eine mehrbändige Pracht-Ausgabe heraus, die auch Wand- und Deckenmalereien enthält, mitsamt den schwebenden Tänzerinnen im Band III. Sie ist jedoch nicht jedermann zugänglich, sondern wird nur vom König höchstpersönlich als Geschenk bevorzugten Personen überreicht.
Problem Nr. 2: Wie verschafft man sich Einblick in diese Unterlagen? Sir William Hamilton, als britischer Diplomat in Neapel, vermittelt.
Franz kehrt zurück, erfüllt vom Gedankengut der Antike. Und nun erblüht in seinem Herrschaftsbereich wegweisend und von Erdmannsdorff kongenial geleitet – der Frühklassizismus. Im Park zu Wörlitz errichtet der Architekt, neben anderen Bauten, welche die Anlage verschönen, auf der „Insel Stein“ die kleine „Villa Hamilton“. Darin findet man auch das reich dekorierte Kaminzimmer. Und in dieses entschwebten die Tänzerinnen aus Pompeji, wiedergegeben als kolorierte Umrissradierungen von Tommaso Piroli. Franz hatte sie, passioniert wie er war, bei einem Kunsthändler in Leipzig aufgetrieben und erworben.
Um das Schweben zu erleben / und noch manches obendrein, / schaue man an diesen Orten / bei Gelegenheit herein.

Pompeji – Leben auf dem Vesuv, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, Theatinerstraße 8; noch bis 23. März 2014, täglich 10.00 Uhr – 20.00 Uhr.
Park Wörlitz: Oranienbaum-Wörlitz, OT Wörlitz; Garten ganzjährig frei zugänglich. Villa Hamilton: April und Oktober Dienstag – Sonntag, Feiertage 11.00 Uhr -17.00 Uhr; Mai bis September, Dienstag – Sonntag, Feiertage 10.00 Uhr – 18.00 Uhr.