16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Der Stern von Bethlehem

von Frank-Rainer Schurich

Als wir am 24. Dezember 2011 zu den Kindern nach Prohn bei Stralsund fuhren, ahnten wir nicht, dass wir unser Wunder erleben werden.
Irgendwann, als die Zeit der Bescherung herangereift war, ermunterte Anja die Männer, noch ein Stückchen mit den Hunden Hertha und Paula hinauszugehen. Wenn Franz, damals sieben Jahre alt, dann zurückkäme, wäre der Weihnachtsmann eben schon da gewesen und hätte die Geschenke einfach abgelegt. „Das glaubt der noch“, meinte Anja.
Gesagt, getan. Erik hatte keine Lust, aber Falk, Roman, Franz und ich stiefelten mit Hertha und Paula los. Der Himmel war klar, was sich als großer Vorteil erwies. An der Prohner Dorfkirche kehrten wir um. Wir schauten in den Himmel. „Da“, sagte Franz, „Opa, guck mal, da oben ist der Große Wagen.“ Franz hatte Recht, da oben fuhr der Große Wagen. Roman wollte nicht zurückstehen und rief: „Da ist die Kassiopeia!“ Und auch das stimmte, denn oben im nördlichen Sternenhimmel war das W im Band der Milchstraße zu sehen.
„Binde deinen Karren an einen Stern“, fiel mir gleich ein. Das soll Leonardo da Vinci einmal geschrieben haben. Und Joseph Brodsky hatte einen Weihnachtsvers gedichtet:

Ein Stern hat über die Schwelle geschaut.
Doch keiner von ihnen war vertraut
mit der tieferen Ursache dieses Lichts.
Bis auf das Kind – und das sagte nichts.

Franz sagte auch nichts und bewunderte das Firmament, an dem die höheren Mächte unzählige leuchtende Punkte angetackert hatten. Und einen Moment dachte ich noch an den kleinen Prinzen, der wollte, dass man lacht, wenn man die Sterne anschaut. Weil er auf einem dieser Sterne wohnte und auch lachte.
Der heilige Moment wurde jäh unterbrochen. „Da!“ schrie jetzt Falk, „ein Komet!“
Wir erhoben den Blick, außer Hertha und Paula, und sahen drei oder vier Feuerbälle mit roten Schweifen, die sich hoch über uns vom Westen kommend Richtung Ostsee bewegten.
„Das ist der Stern von Bethlehem“, sagte ich leise und mit Pathos.
„Quatsch, der Weihnachtsmann mit Kutsche ist das“, meinte Roman kindgerecht.
Wir staunten in den Himmel, außer Hertha und Paula, und waren uns irgendwie bewusst, dass dies ein ganz besonderer Moment in der Geschichte der Menschheit ist. Und Jahre später können wir sagen: Wir sind dabei gewesen! Das konnte vor uns nur der Augenzeuge Goethe bei der Kanonade von Valmy behaupten, als 1792 die Franzosen die Deutschen verprügelten.
Die Feuerbälle flogen dahin, und als sie unseren Blicken entschwunden waren, hatte Falk, der Praktiker, als Erster die Sprache wiedergefunden: „Was war das denn?“
„Der Stern von Bethlehem“, wiederholte ich, „dieser eine Stern.“
Wir schwebten zum Weihnachtshaus. Nur die Hunde hatten diesen bewegenden Moment nicht verstanden und pinkelten noch ein paar Mal, bevor wir dann zu Hause ankamen. Natürlich, den Weihnachtsmann hatten wir verpasst. Wir berichteten den Daheimgebliebenen von unserer wundersamen Begegnung. Ich glaube, Erik war ein bisschen traurig, dass er den Stern von Bethlehem nicht gesehen hatte.
Franz spielte zu unserer Überraschung gefühlvoll auf dem Klavier, Erik sang dazu sehr schöne Weihnachtslieder, und dann wurden endlich die Geschenke überreicht und inspiziert. Franz hatte die Sterne und Kometen vergessen, und wir auch für einen kurzen Moment, aber immer wieder kam das Gespräch auf diese wunderbare und seltsame Erscheinung, die wir gegen 17.30 Uhr an diesem Heiligen Abend gesehen hatten – 2011 Jahre nach Jesu Geburt.
Natürlich wussten wir, dass dieser Stern von Bethlehem den Verfassern der Bibel vielleicht nur als symbolisches Verkündigungsmotiv diente, aber vielleicht gab es damals ein reales Himmelsereignis, das sich heute eben wiederholt hat? Wir wussten es nicht, und wir warteten einfach ab, was weiter geschehen sollte. Nur Regina meinte in ihrer sachlichen Art, dass sich schon eine Erklärung dafür finden wird.
Wir feierten und lachten, obwohl wir den kleinen Prinzen gar nicht sehen konnten. Steffi war die Erste, die uns aus all unseren Träumen riss. Im Internet war schon verkündet worden, dass es schlicht und einfach irdisches Metall war, das unsere unsterblichen Gedanken so in die Irre geführt hatte. Tage darauf war die Presse voll mit Erklärungen. „Weltraumschrott statt Weihnachtskutsche“, „Himmlischer Schrott“ oder „Ein Kosmos voller Überraschungen“ – so titelten die Tageszeitungen.
Und die Erklärung war simpel. Der Lichtschweif, der am Weihnachtsabend über den Nachthimmel raste und viele Menschen in Aufregung versetzte, war ein verglühendes Raketenteil, nämlich die Oberstufe einer Sojus-Rakete, die Tage zuvor drei Weltraumfahrer zur Internationalen Raumstation ISS gebracht hatte. In etwa 80 Kilometern Höhe war sie einfach in verschiedene Teile zerfallen und über der Erde verglüht – mit einer Geschwindigkeit von 25.000 bis 28.000 Stundenkilometern. Wir hatten nicht die Wiederkehr des Messias erlebt oder den Weltuntergang oder ein Wunder, sondern die Verschrottung von Weltraummüll.
„An allem sind die Russen schuld“, hatte meine Oma immer gesagt – und auch diesmal Recht behalten.
Vielleicht war der Stern von Bethlehem vor mehr als zweitausend Jahren auch Himmelsschrott? Eine Raketenstufe von Außerirdischen? Oder Außerirdische in einem Raumschiff? Wer weiß das schon …
Ein Freund, der Theologe Dieter Kraft, schrieb mir vor gut einem Jahr zu dieser Geschichte, die ich ihm im Entwurf geschickt hatte: „Besonders gefallen hat mir, dass die Hunde sich dem Schauspiel verweigerten. Da fällt mir prompt ein: Schleiermacher hielt Religion für das ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘. Und da sprach der Meister Hegel: Wenn dem so wäre, dann wäre ja wohl der Hund der beste Christ. Ich schlussfolgere: Eure Hunde sind gar keine richtigen Christen. Halten zu Gnaden.“