16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Loofen lassen: Haußmanns Memoiren

von Reinhard Wengierek

„Als ich einmal Freund Frank Castorf fragte, wie er das alles hinbekomme mit den Freundinnen, über die er in einem fort jammert, und den vielen Kindern (sechs oder sieben sind es mittlerweile), und ob das nicht, vor allem organisatorisch, schwierig sei, da musste er nicht einmal nachdenken, um zu antworten: ‚Weeste Leander, ick lass et einfach loofen.‛ – Ich verstand ihn sofort, war ein bisschen neidisch auf seine Freiheit und sage jetzt dasselbe: Ick lass et einfach loofen.“
Das ist der Prolog von Leander Haußmanns Knapp-300-Seiten-Memoiren (mit 54 Jahren Memoiren!), die kürzlich erschienen sind unter dem propagandistisch wirkungsvollen (hinsichtlich der künstlerischen Fähigkeiten des Regisseurs allerdings nur halb zutreffenden) Titel „Buh“.
Haußmann, gelernter Drucker, war nach seinem Schauspielstudium an der Berliner „Ernst-Busch“-Schule als rotierende Skandalnudel unterwegs in der ostdeutschen Provinz. Nach der „Wende“ vom gesamtdeutschen Feuilleton heftig gefeiert als Jung-Star-Regisseur (Nationaltheater Weimar, Einladungen zum Berliner Theatertreffen). Sogleich erhielt er die Intendanz des damals im ideologischen Grau dämmernden Schauspielhauses Bochum, das er unsanft erweckte mit Skandalen hinter den Kulissen und mit grell sinnlichen, saftig poetischen und auch sehr spaßigen Inszenierungen auf der Bühne. Seine lustigste Neuerung stach dem Besucher sofort ins Auge: Das Schließpersonal trug kleine, blinkende rote Plastikherzen am Revers. Nach Bochum war er wieder herumreisender Theater- und Opernregisseur und fing an, Filme zu machen: „Sonnenallee“, „Herr Lehmann“, „NVA“, „Kabale und Liebe“, „Hotel Lux“ (großartig!); zuletzt „Hai-Alarm am Müggelsee“ (so lala-blabla) und ganz zuletzt der TV-Polizeiruf „Kinderparadies“ (wieder ganz und gar großartig). Daneben zahlreiche Filmrollen.
Ein berühmter Kritikerkollege nannte ihn nassforsch „Deutschlands fröhlichste Regienull“. Quatsch! Das mit der Null ist unverschämt verallgemeinert. Das „Fröhlichste“ jedoch stimmt; abgesehen von Haußmanns melancholischem Grundeinschlag.
Die Stasi nannte ihn hämisch einen „geborenen Kantinenschauspieler“, Claus Peymann ein „ewiges Enfant terrible“ und ließ ihn soeben an seinem Berliner Ensemble einen aufsehenerregenden „Hamlet“ inszenieren (man spekuliert schon, er werde Peymanns Nachfolger als BE-Chef). Haußmann ist, wie Hamlet, Neurotiker – und Komiker von sehr hohen Graden. Mithin kennt er genau das dauernd heulende Elend der Welt – einschließlich seines eigenen, wovon sein so freches wie wehes Buh-Buch vor allem handelt.
Dass er es einfach so loofen lässt wie Kumpel Frankie, mag stimmen und auch wieder nicht. Denn selbst Castorf lässt es nicht wirklich immer „nur loofen“ und ist als Urberliner natürlich – wie Urberliner Haußmann auch – ein Meister der kecken Pointe. Und diese, also diese Übertreibung namens „Buh“, die stimmt stets nur zur Hälfte überein mit der (meist bitteren) Wahrheit. – Lebenskunst und Kunst überhaupt heißt vielleicht: Es loofen lassen zu können; aber es immer und immer wieder auch anzuhalten! Beide, Haußmann & Castorf, haben es hinlänglich bewiesen; Castorf freilich am künstlerisch wirkungsvollsten. Er wurde schließlich weltberühmt, was Kumpel Haußmann ihm (hoffentlich) nicht neidet.
Das Defizit zum, sagen wir mal forsch, Herzensfreund Castorf mag unter vielem anderen der Grund gewesen sein für Haußmanns bemerkenswert vehementes „Buh“ an sich selbst, eigentlich schreibt er ja auch wie ein Zuschauer im Parkett, der diesem ominösen Herrn Hausmann oben auf seiner Lebensbühne erstaunt und erschreckt zuschaut. So werden die recht scharfen und gänzlich unsentimentalen Beobachtungen unversehens ziemlich selbstkritisch und selbstironisch – irgendwie muss man schließlich mit Misserfolgen (wie Erfolgen) fertig werden; womöglich ist Castorf diesbezüglich gar der größere Wegstecker.
Zugleich aber feiert Leander Haußmann, der ein schlimmes Ekelpaket sein kann und mit 30 Lenzen immerhin „hottest Director in Deutschland“ war, der feiert also neben seinen ungeniert, ja geradezu exhibitionistisch ausgestellten Flops noch seine feinen, edlen, sensiblen, großartigen und warmherzigen Charakterseiten nebst den dazu passenden Kunstveranstaltungen. – „Damals hatte ich viele lustige Ideen“, sagt er über die Zeit als „hottest Director“. Heute bin ich für jede lustige Idee, die ich nicht habe, dankbar.“ Lässiges Understatement: „Hamlet“ strotzt vor Ideen jedweder Art…
Überdies erfährt man in diesem hübsch anekdotisch komponierten Buch viel darüber, wie das geht: Theater zu machen und Film. Man hat, wie der Autor, seinen Spaß am Kramen im Nähkästchen der Kunst wie dem des allgemeinen wie privaten Lebens. Vor allem wenn man ein so begnadeter Schreiber ist – diesbezüglich ist der Titel total irreführend. Dieser Mann kann’s einfach – als federleichter Feuilletonist seiner verrückt schäumenden Daseinsgeschichte. Enormes Lesevergnügen. Frei von Larmoyanz und Schreibschweiß; fast frei von Koketterie. Leander lässt es einfach loofen. Und es läuft und läuft. Aber es läuft niemals über, niemals breit. Ein souveränes Kunststück. Bravo „Buh“.

Leander Haußmann: Buh. Mein Weg zu Reichtum, Schönheit und Glück, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 272 Seiten, 16,99 Euro.