von Dieter Naumann
1719 war zumindest auf Mönchgut auf Rügen zunächst Schluss mit der Übernahme der Pfarre durch Heirat der Witwe oder Tochter des verstorbenen Pfarrers (so genanntes „conserviren“). Es war das Geburtsjahr des Pfarrwitwenhauses. Derartige soziale Einrichtungen der Kirchgemeinden für die Pfarrerswitwen gab es in verschiedenen Orten der Insel, die entsprechenden Gebäude sind noch heute unter anderem in Bergen, Groß Zicker, Kasnevitz, Zirkow und auf Zudar zu sehen.
Das Pfarrwitwenhaus von Zirkow unweit der Kirche ist wahrscheinlich nicht nur das älteste seiner Art, sondern wohl auch das älteste Wohnhaus der Insel überhaupt. Es wurde vermutlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts, also noch vor dem 30-jährigen Krieg errichtet. Allerdings wurden in den 1950er Jahren alle Balken des Hauses, die Ausfachung und das Dach erneuert. Lediglich ein Balken vom Dachgebälk soll nach Auskunft der Bewohner noch original sein.
Das bekannteste seiner Art dürfte jedoch das Pfarrwitwenhaus in Groß Zicker mit seinem malerischen Bauerngarten sein. Das schornsteinlose Rookhuus (Rauchhaus) wurde zwischen 1720 und 1723 gebaut. Anlass war 1718 der Tod des damaligen Pfarrers, Johannes Cadow, der neben seiner Frau Anna Katharina vier Kinder hinterließ, die das Pfarrhaus für die nachfolgende Pastorenfamilie räumen mussten. Eigentlich hatte die „mannbare“ Witwe wie üblich auf einen neuen Pfarrer gewartet, der sich ihrer und der Kinder annehmen und damit die Pfarre „conserviren“ sollte … Es folgte aber eine Zeit, die für die Beteiligten weniger amüsant gewesen sein dürfte, als es sich heute teilweise liest.
Was war geschehen: Statt wie üblich die Pfarre „conserviren“ zu lassen, hatte der dänische König Friedrich IV. 1719 ohne Rücksicht auf das Gnadenjahr Pastor Tobias Rennert berufen, der jedoch bereits verheiratet war. Rennert war nach vielen Lebensstationen unter anderem in Russland und Schweden 1714 nach Pommern gekommen und seit 1715 Pfarrer in Kröslin bei Wolgast; darüber, warum ausgerechnet ihn der dänische König nach Groß Zicker berief, wird bis heute in der Literatur gerätselt.
Selbst ein zwölfseitiges Schreiben aller Geistlichen der Insel Rügen, mit dem sie das Recht der Konservierung der Pfarre durch Einheirat zu verteidigen suchten, vermochte den Dänenkönig nicht umzustimmen. Brigitte Metz zitiert daraus in „Wenn das Pfarrwitwenhaus erzählen könnte“: Die wackeren Geistlichen führten neben dem lieben Geld unter anderem die Befürchtung an, junge Leute würden sich – wenn sie nicht wüssten, dass sie einmal eine Pfarrtochter oder eine -witwe ehelichen – „häuffig verleiten lassen, auff Schulen und Universiteten sich zu verplembern und zum theil mit liederlichen Personen, welches sie anfanges würden heimlich halten, hernach aber damit auffgezogen kommen, abermahl zum despect des Ministerij“ (zum Schaden des Amtes).
Der Dänenkönig, für den die Konservierung eine schlechte Sitte war, blieb unnachgiebig, und die Kirchgemeinde musste wohl oder übel zur Versorgung der Pfarrerswitwe den Bau des Pfarrwitwenhauses in Angriff nehmen, was durchaus mit erheblichen Kosten verbunden war.
So werden im Kirchenbuch von Groß Zicker 1720 „zur Erbauung des Witwenhauses 64 Taler“ vermerkt, im Kirchenbuch des zum Kirchspiel gehörenden Hagen sind „für Bauung des Witwenhauses 128 Taler“ notiert. Noch im gleichen Jahr wird das Haus errichtet. Joachim Krüger skizziert in „Der Bau des Pfarrwitwenhauses in Groß Zicker“ die dabei auftretenden Probleme: Als Vertreter des dänischen Königs war der Amtmann von Bergen und Landvogt von Rügen, Christian Albrecht von Johnn, verantwortlich für den Bau und kümmerte sich unter anderem um den Bauplatz. Angewiesen wurde eine wüste Hofstelle, die vorher ein Carsten Runge bewohnt hatte, dessen Haus jedoch abgebrannt war. Anfangs gab es allerlei Schwierigkeiten, es fehlte an Bauleuten und an Material, mehrfach stockt der Bau … In dieser Zeit wohnte die Witwe Cadow weiterhin im Pfarrhaus und nutzte dort offenbar die besten Räume, was zwangsläufig zu Konflikten führte. Rennert muss sich mehrfach bei Johnn beschwert haben, „es sei nu unmöglich, daß wir beyde kondten Zusamen bleiben. Ich habe nur die eine Stube, da ich mit Knecht und Magd in sein soll, und ohne dem so kalt, da sie nicht zu erhitzen ist […]“. In einem anderen Brief beklagt Rennert erneut den ausbleibenden Baufortschritt und stellt sarkastisch fest: „…die Fr. wittwen siehet es gerne. Ich habe solche uberlaßt, daß ich frey sagen darff, daß ich kein großer Verdruß auf der Welt gehabt alß nu. Und ich kann sie mit allen ihren Zugehor nicht bey mir haben […]“
1723 zieht die Witwe Cadow endlich mit ihren vier Kindern und nach dem Tod des Cadow-Nachfolgers, Tobias Rennert (
1727), wohl bald auch dessen Witwe Sabine in das Haus ein, weil erneut – diesmal vom schwedischen König Friedrich I. – ein bereits verheirateter Pfarrer, Daniel Poetter, berufen wurde. Die Witwe Rennert erhielt allerdings aus der Kirchenkasse für einige Zeit ein bis zwei Taler pro Jahr als Hausmiete, muss also anfangs zur Miete gewohnt haben, wo auch immer. Man hatte wohl Zweifel, dass beide Witwen ohne Streit unter einem Dach auskommen könnten. Dieser dann vermutlich 1735 eingetretene Zustand dürfte allerdings auch einmalig auf Rügen gewesen sein. Ganz sicher ist dies nicht. Es ist auch möglich, dass Witwe Cadow inzwischen verstorben war, genaue Kunde gibt es darüber nicht.
Bereits 1733 wird vom schlechten Zustand des Pfarrwitwenhauses berichtet. Der damalige Pfarrer wollte das marode Dach im Herbst wegen der Nässe, des schlechten Bauholzes und der „liederlichen Faulpelze von Arbeitern“ nicht mehr decken lassen. Letztlich sei der Gutspächter von Philippshagen eingesprungen, der vierzehneinhalb Schock „Schoof“ (Stroh) zur Verfügung stellte und verschiedene Baumaßnahmen veranlasste. Schon bald fallen weitere Reparaturkosten an, 1782 muss gar das Strohdach erneuert werden, das erst später durch ein Dach aus Schilfrohr ersetzt wird.
In den Kirchenakten findet sich neben diesen Kosten unter den Ausgaben der Kirchgemeinde auch der Lebensunterhalt für die Pfarrwitwe: Sie erhält zehn Reichstaler im Jahr (sieben aus Hagen und drei aus Groß Zicker). Zum Vergleich: Für die Einführung eines Pastors mussten aus der Kirchenkasse 14 (!) Reichstaler berappt werden.
Die letzte Pfarrwitwe, Sophia Vahl, wohnt von 1782 bis zu ihrem Tod 1810 im Haus, ihre Tochter noch bis 1811.
Danach, von 1811 bis 1830, ist das Pfarrwitwenhaus Schule und zugleich Wohnhaus des Schulmeisters. Als erster „Schullehrer“ agierte ohne jegliche pädagogische Ausbildung mehr schlecht als recht Steuermann Johann Jacob Zaage aus Zingst. Ihm folgen ein Schuster und ein Schafhirte, die wohl ähnlich provisorisch „Schule gehalten“ haben dürften, ehe 1820 mit einem Küstersohn der erste seminaristisch ausgebildete Lehrer eingestellt wird. Als Groß Zicker 1830 ein eigenes Schulgebäude bekommt (heute Wohnhaus, Boddenstraße 12), wird das Pfarrwitwenhaus vermietet. Um 1850 bewohnt der Einlieger Johann Friedrich Christian Radvan mit seiner neunköpfigen Familie die je nach Nutzung maximal sechs bewohnbaren Räume. 1884 zieht dessen Sohn Hans Karl Reinhold, danach (1910) wiederum dessen Sohn Wilhelm Albert Adolf ein. Erst 1984 (!) zieht die letzte Bewohnerin, Anna Glutsch, Tochter von Wilhelm Radvan, aus.
Das Pfarrwitwenhaus wurde recht bald zu einer bekannten Sehenswürdigkeit unter den Rügenbesuchern und erschien 1892 erstmals als Postkartenmotiv. Dennoch erwähnen es von den älteren Reiseführern nur wenige, darunter „Arthur Schuster´s Führer durch die Insel Rügen“ von 1929-1930: „Groß-Zicker hat viele alte Häuser, das älteste Wohnhaus, das Pfarrwitwenhaus, ist ein sogenanntes Rauchhaus, ein Geschenk des Schwedenkönigs.“
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