16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Prager Wahlgeschehen

von Erhard Crome

„Wählen hat Folgen“, sagte einst einer der Gründungspfarrer der Ost-SPD, nachdem die CDU die Volkskammerwahl im März 1990 gewonnen hatte. Das ist ein Satz, wie: Nachts ist es dunkel. Aber er klingt trotzdem nach Weisheit und hat den Vorteil: Er gilt immer.
Die Frage ist nur: Welche Folgen? In Tschechien fanden am 25. und 26. Oktober vorgezogene Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus statt. Die Neuwahl war nötig geworden, nachdem die konservative Regierung von Premier Petr Nečas wegen verschiedener Liebes-, Korruptions- und anderer Affären zurücktreten musste und eine von Präsident Miloš Zeman präferierte sozialdemokratisch geführte Regierung keine Mehrheit fand.
Das Wahlergebnis überraschte wiederum viele. Die Sozialdemokraten schnitten erneut deutlich schlechter ab, als die Umfragen erwarten lassen wollten. Sie erhielten 50 Sitze im Parlament (von 200) und 20,5 Prozent der Stimmen. Das waren fast zwei Prozent weniger als 2010 und ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1992. Und das, obwohl die gescheiterte Regierung eine konservativ geführte war. Die Kommunistische Partei – eine derjenigen im Osten Europas, die am wenigsten programmatisch gewendet sind – erreichte 33 Mandate und mit fast 15 Prozent der Stimmen 3,6 Prozent mehr als 2010. Das Ergebnis für Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen lag aber wieder deutlich von einer linken Regierungsmehrheit entfernt. Hauptverlierer der Wahl war die konservative Bürgerpartei ODS, die seit der Selbständigkeit der Tschechischen Republik eine der dominierenden Parteien des Landes war. Sie wurde fünftstärkste Partei und erhielt nur noch 7,7 Prozent der Stimmen sowie 16 Sitze – sie hat 37 Sitze verloren.
Großer Gewinner der Wahl war die Partei „Aktion unzufriedener Bürger“ (ANO 2011). Sie trat erstmals an und erreichte auf Anhieb 18,7 Prozent der Stimmen und 47 Sitze – damit wurde sie zweitstärkste Partei. Die Partei gehört dem Großunternehmer und Multimillionär Andrej Babiš. Oder freundlicher gesagt: Er hat die Partei 2011 gegründet. Der Parteiname „Akce nespokojených občanů“ lässt sich mit ANO abkürzen, was auf Tschechisch „Ja“ heißt, 2011 verweist auf das Gründungsjahr. Die Partei sieht sich jenseits des Links-Rechts-Schemas und eher als Protestbewegung gegen das „etablierte“ Parteiensystem. Manche Beobachter vergleichen Babiš und ANO mit Beppe Grillo und seiner Bewegung in Italien. Ein weiterer Gewinner der Wahl ist der Unternehmer Tomio Okamura (der tschechische und japanische Wurzeln hat), der die Partei „Morgendämmerung der direkten Demokratie“ gegründet hat, die ebenfalls erstmals zur Abgeordnetenhauswahl antrat. Sie erhielt fast sieben Prozent der Stimmen und 14 Mandate.
Die „Morgendämmerung“ hat jedoch eine andere Partei beerbt, die sich ebenfalls als neu verstanden hatte, die Partei „Věci veřejné“ (VV), zu Deutsch „Öffentliche Angelegenheiten“. Die entstand im Jahre 2001 als örtliches Parteikonstrukt im Prager Stadtbezirk Nr. 1, der unter anderem auch die Altstadt (Staré Město) umfasst. Bei Kommunalwahlen im Jahre 2002 erlangte sie dort das erste Mandat in der gewählten Stadtteil-Vertretung, 2006 in diesem Stadtbezirk bereits über ein Fünftel der Stimmen sowie Mandate auch in anderen Gemeindevertretungen. Als programmatischer Dreh- und Angelpunkt von VV wurde die Förderung der direkten Demokratie präsentiert. Für Mitglieder und Sympathisanten der Partei wurde die Möglichkeit geschaffen, die Politik der Partei über Internetreferenden direkt mitzuentscheiden.
Zum Vorsitzenden der Partei wurde 2009 – als die Partei sich anschickte, aus dem kommunalen Rahmen hinauszutreten in die landesweite Politik – der Publizist, Schriftsteller und Drehbuchautor Radek John gewählt. John hatte in den 1980er Jahren die Drehbücher für eine Reihe bekannter tschechoslowakischer Filme geschrieben und sich nach dem Systemumbruch vor allem als investigativer Journalist mit starker Anti-Establishment-Ausrichtung betätigt. Bei der Europawahl 2009 erreichte VV mit 2,4 Prozent der Stimmen immerhin einen Achtungserfolg. In der Parlamentswahl im Mai 2010 übersprang die erstmals landesweit antretende Partei deutlich die Fünf-Prozent-Hürde und erhielt 10,9 Prozent der Stimmen und 24 Parlamentssitze (von 200).
VV war mit einer starken Anti-Korruptions-Kampagne zu den Wahlen angetreten. Da die Sozialdemokraten, die als Favoriten galten, das prognostizierte Wahlergebnis nicht erreichten, konnte die konservative Bürgerpartei ODS zusammen mit der VV und der ebenfalls neugegründeten Partei „TOP 09“ eine rechte, bürgerliche Regierung bilden. Radek John, der zur Wahl Spitzenkandidat seiner Partei in Prag war, wurde stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister. Bald jedoch wurden Korruptionsvorwürfe gegen VV ruchbar. Am Ende trat John bereits 2011 von seinen Ämtern zurück, die Fraktion spaltete sich und kündigte offiziell die Koalition auf; die ausgetretenen Fraktionsmitglieder sicherten der Regierung jedoch weiterhin die bürgerliche Mehrheit. Zu den Wahlen 2013 trat sie nicht an, viele ihrer Protagonisten kandidierten jedoch auf der Liste der „Morgendämmerung“.
Hier ist auch auf die Partei „TOP 09“ zu verweisen – TOP steht für „Tradition, Verantwortung, Wohlstand“ und 09 für das Gründungsjahr 2009. Die Partei ging aus einer Spaltung der Christdemokratischen Partei hervor, aus ihrem rechten Flügel. Sie erhielt bei den Wahlen 2010 16,7 Prozent der Stimmen und 46 Mandate und wurde damit drittstärkste Partei. Außenminister Karel Schwarzenberg (geb. 1937) wurde zum Vorsitzenden von TOP 09 gewählt und war nach der Regierungsbildung von 2010 Vize-Ministerpräsident. (Er ist im Nebenamt Oberhaupt der alten, aus Franken stammenden Fürstenfamilie Schwarzenberg, die jahrhundertelang im Dienste der Habsburger stand, kann den Fürstentitel offiziell aber nicht tragen, da die Tschechoslowakische Republik, wie die Republik Österreich, bereits 1918 die Benutzung der überkommenen Adelstitel untersagt hatte. Das Vermögen der Familie, das auf verschiedene Länder Europas verteilt ist, wird auf 200 bis 300 Millionen Schweizer Franken geschätzt.) Im Wahlkampf von 2010 ging unter Wahlbeobachtern der Streit, ob Schwarzenberg oder John den größten populistischen Anklang hatte. Schwarzenberg lehnte den Vorwurf des Populismus stets ab. Er galt dann als der beliebteste Politiker Tschechiens und kam bei der ersten Direktwahl des Staatspräsidenten im Januar 2013 bis in die Stichwahl, die er allerdings gegen den Sozialdemokraten Miloš Zeman verlor. Bei der Wahl 2013 erhielt TOP 09 knapp zwölf Prozent und noch 26 Sitze. Die christdemokratische Partei, die 2010 an der Fünfprozenthürde gescheitert war, erhielt jetzt 6,8 Prozent und 14 Mandate.
In vielen Ländern ist im 21. Jahrhundert ein anderer Partei-Typus hinzugekommen, der nicht in das alte Muster von Christdemokraten, Sozialdemokraten und so weiter passt. Solche „Parteien des Unbehagens“ haben zumindest eines gemeinsam: Sie sind Ausdruck der Unzufriedenheit mit den obwaltenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, geben diesem Missvergnügen aber einen partei- beziehungsweise wahlpolitischen Ausdruck. Sie artikulieren sich nicht als Politikverdrossenheit und Verweigerung, sondern sind eine Reaktion auf die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und geistigen Verhältnisse nach dem Ende des Realsozialismus und im Zeichen des Neoliberalismus. Dazu gehören Forderungen und Politikangebote wie: direkte Demokratie, Nutzung des Internets als „Demokratieforum“, flexible Politikvermittlung. Solche Parteien kritisieren den obwaltenden politischen Prozess und die anderen Parteien, die den überkommenen Parteifamilien angehören, und artikulieren einen Protest, der seinerseits Parteiförmigkeit angenommen hat. In Tschechien gehören dazu jetzt drei Parteien: ANO, TOP und Morgendämmerung.
Dies ist ein Zeichen dafür, dass Protest gegen die derzeitigen sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus, gegen Sozialabbau und Korruption den Weg nicht notwendig nach links findet. Vielleicht ist es ja so, dass in den bürgerlichen Nationen in EU-Europa, zu denen neben Tschechien auch Deutschland gehört, die Mehrheit der Bevölkerung im Zweifelsfalle auch dann eine bürgerliche politische Option sucht, wenn sie protestiert. Insofern ist eine parteipolitische Umgruppierung innerhalb des bürgerlichen Lagers, wie sie jetzt in Tschechien stattgefunden hat, kein Ausrutscher, sondern Ausdruck einer „mitteleuropäischen“ Normalität. Wenn das stimmt, hätte das jedoch sehr weitreichende Folgen – vor allem für alle Überlegungen zu einer „linken“, nicht-bürgerlichen Alternative.