von Ulrich Busch
Als die Ostdeutschen vor 24 Jahren, im Herbst 1989, für Reformen in der DDR auf die Straße gingen, am 9. November die Öffnung der Mauer erzwangen und 1990 schließlich die Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland durchsetzten, stand für sie außer Zweifel, dass am Ende dieses Prozesses eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West stehen wird. Schließlich stand die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ im Grundgesetz (Art. 72; 106.3) und war ihre Durchsetzung eine vorrangige Aufgabe der Politik. Mit der „Erreichung blühender Landschaften in drei bis fünf Jahren“ hatte Bundeskanzler Helmut Kohl auch gleich die Zeitspanne dafür vorgegeben und damit Hoffnungen auf ein baldiges Erreichen des Konvergenzziels geweckt.
Bekanntlich aber kam es anders: Erst der wirtschaftliche Crash, dann Verzögerungen beim Aufbau Ost. Die Folge war, dass das Ziel in weite Ferne rückte, was bei den Ostdeutschen große Enttäuschung hervorrief. Wie reagiert man auf eine derartige Zielverfehlung? Entweder man erhöht die Anstrengungen, um das Ziel doch noch zu erreichen, oder aber man begreift dieses als illusionär und korrigiert es dementsprechend. Ersteres hätte bedeutet, deutlich mehr in die ostdeutsche Wirtschaft zu investieren, letzteres, die Latte einfach tiefer zu hängen. Man entschied sich für den zweiten Weg: Seit dem 27.10.1994 lautet der diesbezügliche Passus im Grundgesetz nicht mehr „Sicherung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, sondern „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“. Damit wurde das Konvergenzziel aufgeweicht, wenn nicht gar aufgegeben. Der Weg wurde frei, Ostdeutschland „auf Dauer“ unterhalb des westdeutschen Niveaus zu halten, ohne dadurch mit der Verfassung in Konflikt zu geraten. – Eine wahrlich weitsichtige Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte!
Zum Zwecke der Bilanzierung der seit 1990 eingetretenen Veränderungen in Ostdeutschland und der zur Erreichung der „inneren Einheit“ getroffenen Maßnahmen veröffentlicht die Bundesregierung seit 1997 regelmäßig „Jahresberichte zum Stand der Deutschen Einheit“. Die bisher vorliegenden Berichte belegen anschaulich, wie der durch die Grundgesetzesänderung herbeigeführte Spielraum bei der Interpretation des Konvergenzniveaus von der Politik tatsächlich genutzt wird: Ging man anfangs noch davon aus, dass die fünf neuen Länder das wirtschaftliche und soziale Niveau der alten Bundesländer in einem überschaubaren Zeitraum erreichen werden, so erfolgte mit dem zweiten Bericht (1998), nachdem das Aufholtempo sichtlich nachgelassen hatte, bereits eine Zielkorrektur dahingehend, dass man den Zeithorizont ins nächste Jahrzehnt verschob. Zudem gilt als unerlässliche Bedingung für das Erreichen der Konvergenz, dass die Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft gegenüber Westdeutschland spürbar aufholt und die Wirtschaft der neuen Länder sich „selbsttragend“ entwickelt. Beides war aber nicht zu erkennen.
Ein ganzes Jahrzehnt verging, ohne dass man dem Konvergenzziel wirklich näher gekommen wäre. Die ostdeutsche Wirtschaft verzeichnete beachtliche Zuwachsraten, Produktivitätssteigerungen und Exporterfolge – die westdeutsche aber auch. Teilweise war die Dynamik im Westen sogar größer als im Osten. Die Folge war, dass es trotz einer positiven Wirtschaftsentwicklung im Osten nicht zu einer Angleichung an das Westniveau kam. Bestenfalls wurde der Abstand gehalten. Oftmals aber ging die Schere sogar wieder weiter auf, wurde der Abstand nicht kleiner, sondern größer. Für die Berichterstattung bedeutete dies, dass man in den neuen Ländern Wachstumserfolge vermelden konnte, Verbesserungen aller Art, aber kaum Fortschritte auf dem Wege zur Konvergenz. Dies stellte die Regierung vor eine schwierige Aufgabe. Wie ging man damit um? Zunächst wurde in den „Jahresberichten“ die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ nach wie vor und ohne Abstriche als „wichtiges Ziel und Auftrag der Politik“ herausgestellt, gleichzeitig aber eingeräumt, dass dieses Ziel trotz „großer Fortschritte“ noch längst nicht erreicht sei. So lesen wir zum Beispiel im Bericht für 2008: „Die Bundesregierung bekennt sich … auch weiterhin uneingeschränkt zur Überwindung der teilungsbedingten Unterschiede und insgesamt zur Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West… Auf dem Gebiet der Wirtschaft sind allerdings noch spürbare Unterschiede zwischen Ost und West festzustellen.“
Als sich bald darauf abzeichnete, dass sich das Konvergenzziel auf dem eingeschlagenen Weg weder in fünf noch in zehn, noch in zwanzig oder dreißig Jahren erreichen lässt, ging man in den nachfolgenden „Berichten“ dazu über, die Zielstellung sukzessive zu korrigieren und spürbar herunter zu schrauben. So ist im „Jahresbericht 2009“ nicht mehr von einer allgemeinen Angleichung der Lebensverhältnisse die Rede, sondern nur noch davon, die fünf neuen Bundesländer bis 2019 an das Niveau der „strukturschwächeren westdeutschen Länder“ heranzuführen. Ostdeutschland soll bei der Produktivität und beim Einkommensniveau also nicht mehr den Durchschnitt aller westdeutschen Länder erreichen, sondern nur noch das Niveau von Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder dem Saarland.
Mit dem „Jahresbericht 2010“ erfolgte eine weitere Relativierung der Zielstellung, indem jetzt nicht einmal mehr von einer Niveauangleichung an die strukturschwachen Länder gesprochen wird, sondern nur noch von einem „weitgehenden Aufschließen“ des Ostens „zu den strukturschwächeren Ländern“ im Westen. Statistisch heißt das, der Osten soll nicht mehr 100 Prozent des Niveaus von Schleswig-Holstein oder Niedersachsen erreichen, sondern 85 oder 90 Prozent würden als Zielmarke auch schon reichen.
Im Jahr 2012 gelang der Bundesregierung, man glaubt es kaum, eine weitere Aushöhlung des Konvergenzziels, indem als Referenzgröße das Niveau der strukturschwächsten westdeutschen Flächenländer genommen wird, Ostdeutschland nun aber nicht mehr als „Neu-fünf-Land“ aufgefasst wird, sondern „einschließlich Berlins“, also als „fünf plus eins“. Man beachte, dass Berlin mit seinen 3,4 Millionen Einwohnern und als Stadtstaat ein völlig anderes, sprich: viel höheres Niveau verkörpert als die westdeutschen strukturschwachen Flächenländer. Der Maßstab wird also völlig verzerrt.
Im Klartext heißt das: das ursprüngliche Konvergenzziel wurde inzwischen aufgegeben. Stattdessen wird dem Volk etwas vorgemacht, indem die Latte immer tiefer gehängt wird, so dass es schließlich ein Leichtes sein wird, sie bis 2019 zu überspringen. Offensichtlich aber hat man selbst damit noch Schwierigkeiten. Denn anders ist es kaum zu erklären, warum der „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013“ bisher von der Regierung nicht vorgelegt worden ist und man sich auch sonst in Sachen „Ostdeutschland“ sehr bedeckt hält.
Schlagwörter: Aufbau Ost, deutsche Einheit, Konvergenz, Ulrich Busch