von Margit van Ham
Am Wahlabend spielten die Piraten keine Rolle mehr, ihr Ergebnis wurde nicht mal mehr bei den Statistikspielchen der Wahlstudios erwähnt. Dabei hatte ihnen Edward Snowden doch eigentlich eine Steilvorlage für den Wahlkampf geliefert. Warum, so könnte man sich fragen, legt Erhard Crome jetzt eine neue Publikation ausgerechnet zum Thema „Piratenpartei. Eine Alternative?“ vor? Sein Fazit nach Analyse der Programmatik, der Entstehungsgeschichte und ersten Wahlerfolgen der deutschen Piraten gleicht der Entscheidung der Wähler: „Wo kein Programm ist und keine Köpfe, ist auf längere Frist gesehen auch keine Partei.“ Er setzt hinzu: „ Alles andere war das Prinzip Hoffnung unter der Voraussetzung eines sich unter den Herrschaftsbedingungen des neoliberalen Spätkapitalismus zersetzenden parlamentarisch-demokratischen Staatswesens. Die Frage, dass etwas wirklich Demokratisches an diese Stelle treten sollte ist richtig. Nur: Die Piratenpartei ist nicht die Antwort.“
Es wird zu sehen sein, wie die Piraten mit ihrer Niederlage bei den Bundestagswahlen umgehen. Immerhin gibt es seit der Erstgründung in Schweden 2006 laut Wikipedia weltweit 42 Piratenparteien (nicht nur auf nationaler Ebene) und befinden sich 27 weitere in Gründung. Crome bettet die Einschätzung der Piraten in die Entwicklung neuer Parteien des Unbehagens in Europa ein, und um diesen Aspekt seines Buches soll es hier gehen. Er legt eine informative und in ihrer Verallgemeinerung spannende Analyse dieser Entwicklungen vor. Die neue Publikation ist also trotz (vorläufigen?) Kenterns der deutschen Piraten sehr aktuell.
„Ein tiefsitzendes Unbehagen an der praktizierten Politik macht sich breit. Das ist nicht wirklich eine Politikverdrossenheit, es ist ein Verdruss an der Politik der etablierten Kräfte“, stellt Crome fest. „Es ist eine Systemverdrossenheit, die aber nicht aus dem existierenden politischen System heraus will.“ Die Idee der ganz anders sein sollenden Partei entsteht, die sich auf dem Boden der Verfassung sieht und für demokratische Rechte und Veränderungen eintritt.
Solche Parteien des Unbehagens haben sich im 21. Jahrhundert um charismatische Personen gebildet, aber es gibt auch Parteien, die sich bewusst nicht personalisieren lassen wollen. Sie alle lassen sich nicht den bisher bekannten „Parteifamilien“ (liberal, konservativ, sozialdemokratisch et cetera) zuordnen, artikulieren eher eine Melange von Konservativ-Liberal-Links.
Crome betrachtet zunächst Parteien im Osten Europas. Die Entwicklung seit 1989 folgte nicht den bekannten westeuropäischen Mustern. Der Transformationsprozess zeigte, wie sozialistische Parteien in Ungarn und Polen zu besonders eifrigen Einpeitschern des Neoliberalismus geworden waren, die eher „rechte“ Politik verfolgten, während sie „linke“ Parolen herausgaben – und die soziale Frage liegen ließen. Rechtskonservative wie Viktor Orbán und die Kaczynskis haben sie aufgelesen. Es entstanden Nischen für den nicht-traditionellen, neuen Parteityp.
In Ungarn entstand so 2009 die Partei „Die Politik kann anders sein“ (LMP) zu einer Zeit, als die von der Sozialistischen Partei geführte Regierung begleitet von schweren Korruptionsvorwürfen im Niedergang und die rechtspopulistische „Fidesz“ von Viktor Orbán und die quasi-faschistische Jobbik bereits im Aufwind begriffen waren. Es ging um den Schutz der Bürgerrechte, die politische Partizipation der Bürger sowie um den Kampf gegen Korruption der ungarischen Eliten und gegen die Polarisierung der politischen Kultur. Seit November 2011 ist LMP Mitglied der Europäischen Grünen Partei. Die Parlamentsfraktion spaltete sich Ende 2012 im Streit, ob man angesichts der Politik von Orbán mit der Sozialistischen Partei zusammenwirken sollte. (Die ungarische Piratenpartei war bildete sich 2012 aus einer Arbeitsgruppe in der LMP.)
Im selben Jahr wurde in der Slowakei die Partei „Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen“ (OlaNO) mit 8,55 Prozent drittstärkste Kraft im Parlament. Sie versteht sich programmatisch als konservativ. Auf der Liste dieser Partei kandidierten auch zwei Kandidaten der 2007 gegründeten slowakischen Piratenpartei.
Die „Palikot-Bewegung“ (RP) wurde 2011 drittstärkste Partei in Polen. Der Namensgeber der Partei Janusz Palikot trat zunächst im Rahmen der Bürgerplattform für eine liberale Abtreibungsgesetzgebung und eine Begrenzung des Einflusses der Katholischen Kirche auf das öffentliche Leben ein. Wegen seiner spektakulären und provokativen Auftritte wurde er bald zum Enfant terrible der polnischen Politik. Im Sommer 2011 gründete er dann seine eigene Partei. Neben den genannten Themen setzte sich RP für die Legalisierung weicher Drogen, mehr Rechte für Homosexuelle sowie den kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln und zum Internet ein. Gewählt wurde Palikot vor allem von gebildeteren, städtischen jungen Leuten, vielen eher links orientierten Wählern, die die SLD entweder wegen ihrer „kommunistischen“ Vergangenheit oder der neoliberalen Politik nach 1989 nicht wählen mochten.
In Tschechien hat die Partei VV („Öffentliche Angelegenheiten“), die sich für direkte Demokratie einsetzt, mit der konservativen Bürgerpartei ODS und der ebenfalls neugegründeten Partei „TOP 09“ („Tradition, Verantwortung, Wohlstand“) 2010 eine rechte bürgerliche Regierung gebildet. TOP 09 ging aus dem rechten Flügel der Christdemokratischen Partei hervor. VV und TOP 09 sammelten sich um die Vorsitzenden Radek John (ein bekannter Drehbuchautor und investigativer Journalist) und Karel Schwarzenberg.
Im Gefolge der internationalen Finanzkrise und der „Euro-Krise“ entwickelten sich vergleichbare Verhältnisse auch in westlichen EU-Ländern, zunächst in Griechenland und Irland, dann in Spanien und Portugal. Zuvor schon hatte eine überdimensionierte Finanzwirtschaft Island lahm gelegt. Während in der EU die Staaten die Banken retteten, wurden in Island die Gläubiger zur Kasse gebeten und die Banker erhielten keine Abfindungen, sondern Haftbefehle. (Islands Wirtschaft wird 2013 mit vermutlich 3,9 Prozent wachsen, Sozialabbau wurde verhindert). In der Zeit des Streites darüber, ob die Bevölkerung oder die Gläubiger die Kosten der Finanzkrise zahlen sollen, bildete sich um den Komiker Jón Gnarr die „Beste Partei“. Ursprünglich gedacht als Persiflage mit Forderungen wie „Disneyland am Flughafen“, „Offene statt heimliche Korruption“, gewann sie die meisten Stimmen in Reykjavik. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war 2011 zu lesen: „In Reykjavik hatten die Bürger schon im vergangenen Jahr entschieden, dass sie nichts mehr zu verlieren hatten. Weshalb sie, statt der Clowns, die vorher regierten, den Komiker Jón Gnarr zum Bürgermeister wählten.“
2013, die Krise hatte auch Italien gefangen, erreichte die „Bewegung der fünf Sterne“ des Komikers Beppe Grillo rund 25 Prozent der Wählerstimmen. Seine Netzwerke hatten sich während der vergangenen Jahre parallel zum Zerfallsprozess der politischen Linken aufgebaut. Das alte Parteiensystem Italiens mit seiner christdemokratischen Rechten und der kommunistischen Linken war in den 90er Jahren untergegangen und in diesem Zerfallsprozess ähnelt Italien den osteuropäischen Staaten, schreibt Crome. Berlusconis folgende Politik mündete jedoch angesichts des Zerfalls der italienischen Linken nicht auf herkömmliche Weise in neuen demokratischen Mehrheiten. So entstanden die Bedingungen für Beppe Grillo und erstmals seit der Nachkriegszeit gibt es in Italien eine starke dritte Kraft.
„Wir haben es heute mit einer Konkurrenz der Amoralität zu tun. Der Neoliberalismus hat die europäischen Wohlfahrtsstaaten und damit die sozialen Sicherungssysteme für Millionen Menschen zerstört“, sagt Crome. Die von der EU/Deutschland verordnete Armut sei handgreiflich und europaweit bekannt. „Die erneuten Wählerstimmen für Berlusconi sind Ausdruck dessen: Der Amoralität der Kapitaleigner und ihrer Regierer sowie Ideologen, die Sparkurs sagen und Bereicherung der Reichen meinen, wird von Seiten der Wähler die amoralische Alternative entgegengestellt.“
Ob Beppe Grillo nur eine andere Variante der amoralischen Verneinung verkörpert, sei aber noch nicht ausgemacht. Die Wählerstimmen für Berlusconi und für Grillo stehen für alternative Entwickungen, beide liegen jedoch nicht auf der Linie von Brüssel und Deutschland. Italien ist von seinem Gewicht her für das Fortbestehen der EU – und so auch für Deutschlands Weltgeltung – unverzichtbar, hat also selbst in seiner Schwäche Handlungsmöglichkeiten. Die italienischen Wähler wissen, dass die Vermeidung der griechischen Verarmung über einen harten Konflikt mit der deutschen Politik führt.
Fürs bessere Verständnis aktueller politischer Prozesse sehr zu empfehlen – auch den Piraten…
Erhard Crome: Piratenpartei. Eine Alternative?, verlag am park, Berlin 2013, 103 Seiten, 9,99 Euro.
Schlagwörter: Erhard Crome, Margit van Ham, Piratenpartei, Protestparteien