16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Ein Standardwerk der Richard-Wagner-Literatur

von Klaus Hammer

„Das Theater Richard Wagners“ – die Monografie des Heidelberger Literatur- und Theaterwissenschaftlers Dieter Borchmeyer, bereits 1982 erschienen und seither ein unverzichtbares Standardwerk der Richard-Wagner-Literatur, ist neu herausgegeben worden. Kurz vor der Erstveröffentlichung waren die Tagebücher Cosima Wagners erschienen, die wie keine andere Publikation seit Wagners Tod dessen Charakterbild neu beleuchteten. Auf dieser Grundlage konnte Borchmeyer die erste umfassende Darstellung der Theorie und dramatischen Praxis Wagners aus moderner philologischer Perspektive vorlegen. Wie schuf sich Wagner eine eigene Sprache für seine musikdramatischen Werke? Wie ging er mit seinen Werken an die Grenze der musikalischen Möglichkeiten seiner Zeit? Wie hat er den Mythos wirkungsmächig neu entdeckt, die Tradition der Oper vollendet und dem Musiktheater neue Perspektiven eröffnet? Wie sind Wagners Denkformen in der klassisch-romantischen Tradition, vor allem in der Werkwelt Goethes und Schillers, verankert? Was versuchte der Begründer des Bayreuther Festspielhauses in seinen Festspielen – nach dem Prinzip der antiken Festspiele vor 2000 Jahren – zu vermitteln? Warum ist seine Idee des „Gesamtkunstwerks“ bis heute eine Herausforderung  geblieben?
Das Buch will – und darin liegt eines seiner besonderen Vorzüge – nicht nur ein Fachpublikum ansprechen, sondern auch den philologisch ungeschulten, an den Theorie-Exkursen weniger interessierten Leser erreichen. So hat der Autor die Ergebnisse der theoretischen Kapitel in die Werkinterpretationen – vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parzival“ – in fasslicher Form mit einfließen lassen. Die Interpretationen kann man ebenso wie die wirkungsgeschichtlichen Partien auch unabhängig von den Theorie-Passagen lesen.
Allerdings lässt die Neuauflage den Text bis auf die Korrektur von Druckfehlern unverändert. Das mag man bedauern, denn die Wagner-Literatur hat in den letzten zwei Jahrzehnten kräftig zugelegt, aber man muss wohl auch die Begründung des Autors akzeptieren, dass er sich nicht veranlasst sah, seine Auffassungen zu ändern. Aber nicht vielleicht doch zu erweitern, stärker zu positionieren und zu begründen, wie das bei Nachauflagen sonst üblich ist?
„Der Künstler und die Öffentlichkeit“ heißt das erste Kapitel des Buches, in dem Borchmeyer auf Wagners Festspielidee, dessen Reformprojekte, Vorstellungen vom Volkstheater, die Idee eines „Faust“-Theaters, Wagners Theorie der fixierten Improvisation und die Rezeption des griechischen Ideals der „Öffentlichkeit“ und ihrer ästhetischen Äquivalente in Wagners Theorie und Praxis des Theaters eingeht. Er setzt sich sodann mit den Begriffen Oper, Schauspiel und musikalisches Drama auseinander. Wagners Ideal der „antiken Kunstform“ und die Oper „als unmoralische Anstalt betrachtet“ werden genauso untersucht wie die Geburt der Oper aus der „absoluten Melodie“ – Wagners Genetik des Musiktheaters. Dass Wagner die „absolute Musik“, die er in seinem theoretischen Hauptwerk „Oper und Drama“ ad absurdum zu führen versuchte, dennoch als heimliches oder offenes Ideal betrachtete, macht Borchmeyer an der Auseinandersetzung Wagners mit Nietzsche und dem Kritiker Eduard Hanslick, den Wagner in künstlerischer Freiheit in seinen “Meistersängern“ als „Beckmesser“ sein Unwesen treiben lässt, aber auch an Wagners später Ästhetik sichtbar. In Wagners Paradoxon vom „unsichtbaren Theater“, das er ersehnte, erblickt der Autor ein bedeutungsvolles Signal für die tiefe Entfremdung von dessen musikalisch-dramatischem Ideal einer Bühnenform gegenüber, aus der der Theaterpraktiker Wagner jedoch keinen Ausweg gefunden habe. Die „Erlösung“ des Romans im musikalischen Drama wird im Zusammenhang mit der Leitmotivik behandelt, die als dichtes Gewebe alle Elemente der dramatischen Handlung zu einem Verweisungsganzen zusammenziehen soll. Aus der Wagnerschen Genetik und Strukturbeschreibung des musikalischen Dramas – vor allem aus der Idee der Funktionsverwandtschaft des tragischen Chors der Griechen und des modernen Orchesters – hat dann Nietzsche seine Theorie der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ abgeleitet.
Im Mittelteil erfolgen dann die Werkinterpretationen: „Der fliegende Holländer“ als „dramatische Ballade“, Wagners romantische Opern „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ als Künstlerdramen, Wagners einzige komische Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, die er während der Arbeit am „Ring“ einlegte und die sich von den späten Wagner-Opern insofern unterscheidet, als sie zahlreiche selbständige Einzelstücke enthält. Dann „Der Ring des Nibelungen“, dieses monumentale Gesamtkunstwerk von über 13 Stunden Musik, Schöpfungsmythos und Weltparabel, Mirakel-, Märchen- und Verwandlungsspiel, Haupt- und Staatsaktion wie Stationenstück, Gesellschaftstragödie und Schicksalsdrama, epischer Bericht und absurdes Endspiel in einem. Die Kunst des „unendlichen Details“ und die Welt im sterbenden Licht zeigt Borchmeyer an der Oper „Tristan und Isolde“ auf, die von einer geradezu überirdischen romantischen Liebe erzählt, die ihre Vollendung nur im Tod finden kann. Die „unendliche Melodie“, das Umspielen der Tonartbezüge ohne Rückkehr zum Grundton, kennzeichnet die Partitur. Als Summe und zugleich Steigerung bezeichnet der Autor Wagners letzte Oper „Parsifal“. Hier wird die Idee vom Kunstwerk als Religion spürbar. Elemente aus dem mittelalterlichen Rittertum, aus Buddhismus, Christentum und Philosophie schaffen eine feierliche, zeremonielle Atmosphäre. Die Struktur der Oper lässt eine Steigerung der religiösen Intensität im Verlauf der Handlung erkennen. Durch Parsifals Fähigkeit zum Mitleid wird aus Qual und Sünde eine Quelle der Erlösung und Errettung.
In diesen Werkanalysen können Wagner-Interessierte bestimmte Aspekte dessen, was Wagner beabsichtigt und erreicht hat, nachvollziehen, sie können Motive, Symbole, Sinnbilder, die Wagner absichtlich eingesetzt hat oder die sich ihm von selbst aufgedrängt haben, entschlüsseln und verstehen, so dass sich die Faszination, das emotionale und geistige Erlebnis der Musik Wagners verstärkt. Freilich kann das Verständnis dieser Bedeutungselemente  niemals vollständig sein, weil ihr Ursprung letztlich im Unbewussten liegt.
Abschließend werden die Wirkungen des Wagnerschen Musiktheaters in der deutschen Literaturgeschichte beleuchtet:  bei Adalbert Stifter, Theodor Fontane, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Friedrich Huch. Aber Wagner als Gegenstand ironischer literarischer Verarbeitung wie auch die hypnotische Wirkung seiner Musik wären ebenso bei Robert Musil und Heinrich Mann zu untersuchen gewesen. Auch die europäischen Künstler der „Décadence“ wie Charles Baudelaire, Elémir Bourges, Oscar Wilde, Gabriele D’Annunzio haben Wagners Geist beschworen und in ihren Werken Motive und Thematiken seiner Opern aufgegriffen: ekstatische Gefühlswelten, Liebestod oder Inzest. Borchmeyer konzentriert sich ausschließlich auf die Wagner-Rezeption der deutschsprachigen klassischen Moderne, er hätte auch die Wagner-Auseinandersetzung in der Literatur nach 1945 mit einbeziehen können.
Das beeinträchtigt aber in keiner Weise den Wert dieser fundamentalen Darstellung, die zu einer der wichtigsten Publikationen – wenn nicht gar zur wichtigsten – im Richard-Wagner-Jahr 2013 gehört.

Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Neuauflage, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2013, 428 Seiten, 29,95 Euro.