16. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2013

Unruhe auf der „Titanic“

von Werner Richter

Auch wenn das Motiv ziemlich klar sein sollte, warum das öffentlich-rechtliche Fernsehen gegenwärtig in wachsender Zahl Dokumentationen zum Zustand der Gesellschaft mit relativ überraschendem Tiefgang zu sehr später Zeit ausstrahlt: Es lohnt sich, diese Alibisendungen aufmerksam zu verfolgen. Die Aufnahmetechnik macht es möglich. Es werden darin zahlreiche Tabubrüche zugelassen und die wachsende Sorge sehr einflussreicher Wirtschaftslenker vor der Zerstörung der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen durch die sich dynamisch entwickelnden und außer Kontrolle geratenen Finanzmächte artikuliert.
Sie, die intelligenteren unter den Krösussen, bilden so zu sagen das Notstandskomitee der „Titanic“, das inzwischen begriffen hat, dass das Steigen des einbrechenden Wassers nicht mehr mit den Lenzpumpen zu kompensieren ist. Jahrzehntelang und zum großen Teil immer noch jagten sie ihre Unternehmen den verheißenden Finanzstrukturen hinterher. Shareholder-value war die Zauberstrategie, die unbemerkt die ökonomische Aushöhlung der Wirtschaftsstrukturen bis zum Sinnverlust bewirkte. Sie ignorierten das Leck in der Hoffnung, damit auch die Erinnerung des Lecks an sein Gefahrenpotentials auslöschen zu können und so das Leck selbst. Einer der wohl gescheitesten unter den Multi-Milliardären, Warren Buffet, informiert seit Jahren ab und an die Gesellschaft vor den entsetzlichen Folgen auch seines finanziellen Handelns, natürlich auch alibihaft, aber in verblüffendem Klartext. Das geschah auch noch vor der Finanzkrise im Kreise der extra dafür versammelten Finanzminister in der Hoffnung, deren Intelligenz zu treffen, die diese zu Eindämmungsmaßnahmen veranlassen sollte.
Ausgerechnet die Finanzminister, welch ein Irrtum! Die verstanden gar nichts. Rätselnd, was man von ihnen wolle, zuckten sie die Achseln und liefen nach Hause, um das Leck zu begradigen, das heißt, zu erweitern. Es gab noch viel Arbeit, die Sitzordnung im Speisesaal zu optimieren und die Tischreden zu überarbeiten, also vom Leck ablenken. Ausschiffung auf einen Hilfsdampfer war kein Thema, schon der Gedanke daran war und ist bis heute Insubordination, auch für die „Öffentlich-Rechtlichen“, das walte der Verwaltungsrat. Umso erstaunlicher ist denn die Zunahme von Sendungen, die die allgemein angemahnte Parole „Das Schiff ist sicher, wenn wir die Märkte befreien“ in Frage zu stellen beginnen. Noch recht zaghaft, aber unübersehbar trotzig, es soll garantiert sein, eines Tages sagen zu können, „Wir haben es Euch ja gesagt!“
Eine dieser Sendungen war „Titel-Thesen-Temperamente“ vom 18. August (um 23.30 Uhr), in der Max Moor, ob Max oder Dieter, gleichwohl, seit seinem Erscheinen dort ist die Sendung immer für eine Überraschung gut, das Buch der US-Wirtschaftsjournalistin Chrystia Freeland „Die Superreichen“ vorstellte. Dem Vernehmen nach beging sie damit einen Tabubruch, denn die Öffentlichkeit hat kein Interesse am Leben und Wirken der Superreichen zu haben – es sei denn, an den von ihnen frei gegebenen PR-Gags. Freeland wartet mit ökonomischen Machtanalysen auf und lässt Wirtschaftskapitäne ihre Sorge vor dem nächsten Eisberg äußern. Aber bitte immer mit mehrfacher Betonung der damit beabsichtigten Schiffsrettung, zum Wohle des geliebten Kapitalismus, auf das er wieder herrlich funktioniere. Also kein Schiffswechsel, das Risiko haben ja die Passagiere und die Besatzung. So bleibt es auch hier dabei: Die Krisenursachen werden einzelnen, falsch handelnden Personen, Gier, Inkompetenz, Unvernunft, zugewiesen und letztendlich die Systemursachen verdeckt. Allzu wissenschaftlich ist das aber nicht, muss es auch nicht sein, weil die Wissenschaftlichkeit in der Ökonomie längst abhanden kam und offiziell nicht mehr benötigt wird. So erfolgt auch durch diese in diesem Rahmen renommierte Ökonomin keine Analyse der wachsenden Dysfunktion des Kapitalverwertungssystems als tiefste Ursache der ökonomischen Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion mit der Tendenz zur Selbstauflösung. Aber interessant ist die Tendenz zur Öffentlichmachung von unerträglichen Widersprüchen der Gesellschaft schon, und das sagt viel über die Ratlosigkeit der Meinungsmacher. Sie beten den Wunsch, am nächsten Morgen kein Leck mehr zu haben.
Zum guten Ton der Medien gehört bisher, um Gottes Willen ja keine Rückblicke zu Aussagen und Politik führender Politiker zu wagen. Diese Maxime, die eigentlich die totale Verkehrung journalistischer Grundaufgabe ist und natürlich fürs Fernsehen Gesetz, wird neuerdings ein ums andere Mal gebrochen, wohl auch eine Ausgeburt permanenter Ratlosigkeit, journalistische Grundversorgung contra Gesellschaftsauftrag. Letzterer wurde interessanter Weise in jüngster Zeit von verschiedenen Politikern des Öfteren angemahnt. Die Herde blieb trotzdem unruhig. Es gelangen immer wieder Dokumentationen ins Fernsehen, die vor einigen Jahren keine Chance gehabt hätten, ausgestrahlt zu werden. Jüngstes Beispiel war am 19. August (um 22.55 Uhr) die Reportage „Steuerfrei – Wie Europas Bonzen ihre Beute bunkern“ in der ARD. Der Autor Jan Schmitt schildert präzise die Hauptwege der Steuervermeidung größter internationaler Konzerne, die fälschlicherweise oft als „deutsche“ bezeichnet werden. Er wies nach, dass gerade ihre Internationalität die Tendenz der Steuerzahlung gegen Null ermöglicht und dafür zuallererst die deutsche und EU-Finanzpolitik die Basis schuf. Geradezu Sensationelles gelang dem Autor, in dem er durch eine Folge von früheren Aussagen und Aktivitäten dreier Finanzminister (Hans Eichel, Wolfgang Schäuble, Peer Steinbrück) und heutigen Erklärungen dazu, deren Schuld am Wirtschaftsdesaster, das neben der Systemkrise diese verstärkend die Gesellschaftsstrukturen zerstört, sehr gut dokumentierte. Heute würden die Herren wohl nicht mehr zum Interview bereit sein. Guter Journalismus, leider immer noch die Ausnahme. Die Mediathek der ARD ermöglicht den zeitlich begrenzten Zugriff auf diese Sendungen.