von Wolfgang Brauer
In den letzten zwölf Monaten stieg der Preis für Kartoffeln in Deutschland um 44,4 Prozent. Er wird weiter steigen: Das Frühjahr war verregnet, der Sommer trocken und heiß – den Knollen fehlte Feuchtigkeit. In vergangenen Jahrzehnten wurde zumindest im Osten Deutschlands bewässert. Aber das ist den meisten Landwirtschaftsbetrieben inzwischen zu teuer. Zu teuer ist wohl auch die regelmäßige Anzucht neuer Sorten. Die Kartoffel hat die unangenehme Eigenschaft, im Laufe der Jahre zu degenerieren und so anfälliger für Krankheiten zu werden. Hinzu kommt, dass ein immer geringer werdender Anteil der Ernte für „Speisezwecke“ – das ist auch die Pommes- und Speisestärkeproduktion – genutzt wird: Von den in Deutschland 2012 erzeugten 10,6 Millionen Tonnen Kartoffeln wurden nur etwa fünf Millionen Tonnen dafür verwendet.
Kartoffelkrisen können problematisch werden. Die seinerzeit neu aufgetretene Kraut- und Knollenfäule verursachte zwischen 1845 und 1852 in Irland eine Hungersnot, die zwölf Prozent der irischen Bevölkerung das Leben kostete und zwei Millionen Menschen in die Auswanderung trieb – zumeist nach Amerika. Von dort kam übrigens der Erreger. Erheblich verstärkt wurde die auf eine Pilzerkrankung zurückgehende Katastrophe durch eine Politik der britischen Regierung, die wir heute als „neoliberal“ bezeichnen würden.
1847 brach auf den Berliner Märkten die so genannte „Kartoffelrevolution“ aus, die nur durch den brutalen Einsatz des Militärs gestoppt werden konnte. Auch hier gingen miserable Ernteergebnisse voraus. Im Oktober 1846 wandten sich die Berliner Stadtverordneten an König Friedrich Wilhelm IV. mit der Bitte, der preußische Staat möge doch aufgrund der sich abzeichnenden Versorgungsengpässe und zu erwartender Preissteigerungen ein Exportverbot für Kartoffeln und ein Verbot der „Veredelung“ dieses Volksnahrungsmittels zu Branntwein erlassen. Majestät wies dieses Ansinnen mit Empörung von sich. Die Stadtverordneten kuschten. 1847 musste die Stadt Berlin dann 40 Prozent ihres Etats für die „Armenpflege“ aufwenden.
Es kam ansonsten, wie es kommen musste. Im April 1847 verfünffachte sich der Kartoffelpreis. Für etwas über zwei Kilogramm Kartoffeln (eine „Metze“) musste inzwischen der halbe Tagesverdienst eines Arbeiters, nämlich fünf Silbergroschen, auf den Markttisch gelegt werden. Zu den Sorgen kam der Hohn. Am 21. April erklärte eine der für ihren Charme berühmten Berliner Marktfrauen einer sich über den gepfefferten Preis beschwerenden Kundin, sie werde noch froh sein, wenn die Bauern ihr Heu verkaufen würden… Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Marktstände wurden daraufhin geplündert. Dasselbe passierte auf anderen Märkten der Stadt. Am 22. fiel daher der Wochenmarkt auf dem Alexanderplatz aus. Nun plünderte die empörte Menge die Bäckereien und Fleischereien. Das hatte das Eingreifen des Militärs zur Folge. Mitnichten beruhigte dies die Gemüter: Das Volk warf jetzt die Fensterscheiben des Kronprinzenpalais’ Unter den Linden ein. Da wohnte Prinz Wilhelm von Preußen, im Folgejahr machte der sich als „Kartätschenprinz“ einen Namen. Am 23. April 1847 beruhigte sich die Lage aber noch einmal. Die Omnipräsenz des Militärs und Massenverhaftungen trugen dazu bei. Entscheidender war sicherlich, dass die Stadtverwaltung plötzlich Kartoffeln in ungeahnter Menge zur Hälfte des von den Händlern geforderten Preises feilbot.
Dem Kronprinzen Wilhelm blieben die zerschlagenen Fensterscheiben tief im Gedächtnis. Im Juli 1872 erschütterten Mieterkrawalle Berlin. Der nunmehrige Kaiser Wilhelm I. mahnte das Innenministerium, man solle das bloß nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ein Jahr nach der „Kartoffelrevolution“ habe man eine richtige gehabt. Adolf Streckfuß, Teilnehmer und Chronist der Märzrevolution sah dies ähnlich wie der Kaiser: „Die Kartoffelrevolution, diesen Namen hat der unglückliche Aufstand des Proletariats in der Berliner Geschichte erhalten, war mit dem 22. April beendet. Sie hatte nicht den geringsten politischen Hintergrund und dennoch eine Bedeutung, denn sie zeigte, daß in der sonst so ruhigen Stadt Berlin der günstige Moment einen Sturm erzeugen konnte.“
Zurück zu den heutigen Kartoffeln: Die Erzeugerpreise liegen nach Informationen des Bauernverbandes aktuell bei 30 Euro je Dezitonne. Im vergangenen Jahr – bei ähnlich mieser Ernte – waren es noch unter 20 Euro gewesen. Schon die Erzeugerpreise für Frühkartoffeln lagen zum Anfang des Sommers mit 65 bis 75 Euro pro Dezitonne beim Doppelten des Vorjahres! Am 5. Juli vermeldete der Deutsche Bauernverband die „Entwicklung am Kartoffelmarkt bleibt spannend“ und weltweit steige die Nachfrage nach Kartoffeln. Zu tun hat dies mit gestiegenem industriellen Bedarf, aber auch mit absichtsvoll reduzierten Anbauflächen. 2012 wurden in der EU noch 1,815 Millionen Hektar mit Kartoffeln bebaut, 2013 reduzierte sich die Anbaufläche auf 1,775 Millionen Hektar. In Deutschland blieb die Fläche im selben Zeitraum annähernd gleich (238.000 Hektar). Aber auch bei uns gibt es rückläufige Tendenzen. Nach Informationen der dpa bauten beispielsweise die Bauern in Mecklenburg-Vorpommern 1992 noch auf 27.427 Hektar Kartoffeln an. 2013 sind es nur noch 11.600 Hektar. Die Ursachen liegen nicht etwa in einer Auslaugung der Böden. Im Gegenteil: Durch das Umschwenken auf entschieden profitträchtigere Kulturen wie Getreide, Raps oder Mais („Bio-Energieträger“) ist eine die Böden schonende Fruchtfolge nicht mehr gewährleistet. Die ökologischen Folgen werden verheerend sein.
Und die für die Endverbraucherpreise auch. Da der Bedarf der kartoffelverarbeitenden Industrie nach wie vor hoch ist und mit der Ernte des diesjährigen Herbstes alles andere als eine Entspannung der Angebotslage in Sicht ist, dürfte das jetzige Preisniveau mindestens erhalten bleiben, mit aller Wahrscheinlichkeit aber nochmals um ein Drittel anziehen. Der Bundesverband der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie prognostiziert „deutlich steigende Preise für alle Kartoffelprodukte“ und sein Geschäftsführer Horst-Peter Karos bewertete gegenüber dpa die „Sachlage“, er meint die Ernteergebnisse, als „weiterhin schlimm für den Kartoffelbereich.“
44,4 Prozent für Kartoffeln, aber auch Getreideprodukte, Gemüse, Milch- und Milchprodukte, Fleisch und Wurstwaren sind erheblich teurer geworden. Zuletzt im Mai dieses Jahres um bis zu zehn Prozent bei einzelnen Produkten. Das Statistische Bundesamt registrierte im Juli einen Verbraucherpreisanstieg im Vergleich zum Vorjahr jedoch um „nur“ 1,9 Prozent. Dazu muss man wissen, dass im „Warenkorb“ der Statistiker die einzelnen Produkte eine unterschiedliche Gewichtung erfahren und inzwischen qualitative Veränderungen einzelner Produkte, die sich nicht immer auf den Kaufpreis niederschlagen, als „hedonistische Qualitätsbereinigung“ zur politisch gewollten Verfälschung des Kaufpreises des Inhaltes des bundesamtlichen „Warenkorbes“ beitragen. Autos und Notebooks – die ebenso wie Mieten und Handy-Kosten Bestandteil des Korbes sind – kann man nicht essen.
Es geht also nicht nur um die Kartoffeln. Die Handelsunternehmen schließen beispielsweise mit den Molkereien Halbjahresverträge ab. Spätestens im November werden deshalb die Preise für Milchprodukte wieder ansteigen Zur Begründung werden dann wieder die gestiegenen Erzeugerkosten ins Feld geführt werden – auch wenn bei den Bauern zumindest nach Aussage des Bauernverbandes von den Preiserhöhungen das Wenigste ankommt. Im Frühjahr kam der wachsende Bedarf nach H-Milch in China dazu. Dietrich Kittner befasste sich in seiner Kurzeinführung in die Argumentationskette der Globalisierungsgewinnler einstens mit dem Fleischsalat: „Und darum wird Fleischsalat auch teurer jedes Jahr“. Schuld hätten die ägyptischen Baumwollpflücker, so Kittner. Wegen deren Streikerei wäre das Einwickelpapier teurer geworden…
Nur: Wenn der Krug voll ist, genügt ein einzelner Tropfen… Der Prinz von Preußen hatte das noch begriffen. Die bundesdeutsche (und europäische!) Wirtschaftspolitik ist von seinen Einsichten, die man von den Gierschlünden der Lebensmittelkonzerne und Handelsketten mitnichten erwarten kann, noch weit entfernt. Die dummen Sprüche hat man aber jetzt schon auf Lager. Zu Preissteigerungen gebe es eine Alternative, erklärte eine gewisse Katja Börgermann vom Bauernverband der dpa: „Vielleicht werden die Pommes ja ein bisschen kürzer.“ Genau so ein Satz ließ am 21. April auf dem Berliner Gendarmenmarkt die Geduldsfäden reißen.
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