von Bernhard Mankwald
Marx und Engels hatten großen Wert auf die Feststellung gelegt, ihre Theorie sei Ausdruck einer tatsächlichen Bewegung, und in der Tat hatten sie eine kommunistische Organisation von Arbeitern bereits vorgefunden und lediglich deren Analyse und Programm auf eine neue, wissenschaftlichere Grundlage gestellt. Lenin dagegen ging grundsätzlich davon aus, daß den Arbeitern das sozialistische Bewußtsein fehlt: „Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse aus eigenen Kräften nur ein trade-unionistisches Bewußtsein herauszuarbeiten vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.“
Nach Lenins Auffassung sind die Sozialisten also eine Gruppe von Intellektuellen, deren Aufgabe darin besteht, die Arbeiter, die über ihre eigentlichen Interessen zwangsläufig nicht im Klaren sind, aufzuklären. „Die Sozialdemokratie leitet nicht nur den Kampf der Arbeiterklasse für günstige Bedingungen des Verkaufs ihrer Arbeitskraft, sondern auch den Kampf für die Aufhebung der Gesellschaftsordnung, die die Besitzlosen zwingt, sich an die Reichen zu verkaufen.“ Ihre Aufgabe ist es, „die Arbeiterklasse politisch zu erziehen, um ihr politisches Bewußtsein zu entwickeln.“ Sie muß ihr „Führer und Organisatoren“ liefern, die sich „an die Spitze der Bewegung“ stellen.
Auf solche selbsternannten Führer und Erzieher kommt natürlich eine Fülle anspruchsvoller Aufgaben zu, die bei den ständigen Repressionen durch die politische Polizei nur schwer zu lösen sind. Lenin plädiert deshalb neben einer möglichst breiten und nicht konspirativen Gewerkschaftsbewegung für eine kleine, streng konspirative und zentralistisch geleitete „Organisation […] aus Leuten […], die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen.“ Auch Arbeiter können auf das Niveau von Revolutionären „gehoben“ werden. Diejenigen, bei denen das möglich ist, sind jedoch zum Arbeiten viel zu schade: „Ein halbwegs talentierter und ’zu Hoffnungen berechtigender‘ Agitator aus der Arbeiterklasse soll nicht elf Stunden in der Fabrik arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, daß er aus Parteimitteln unterhalten wird, daß er imstande ist, rechtzeitig in die Illegalität unterzutauchen, daß er den Ort seiner Tätigkeit oft wechselt, denn sonst wird er keine große Übung erlangen, wird seinen Gesichtskreis nicht erweitern, wird nicht imstande sein, sich wenigstens einige Jahre lang im Kampfe gegen die Gendarmen zu halten.“ Talentierte Arbeiter sollen also nicht Arbeiter bleiben, sondern auf das „Niveau“ von Funktionären gehoben werden; als Nebeneffekt eines solchen Konzepts ist wohl auch eine besonders hohe Loyalität gegenüber der Partei zu erwarten oder wenigstens gegenüber derjenigen Instanz, aus deren „Mitteln“ der „Agitator“ „unterhalten wird“.
Die Befreiung der Arbeiterklasse soll also nach Auffassung Lenins nicht das Werk der Arbeiterklasse sein, sondern einer kleinen Gruppe von „Berufsrevolutionären“ – eine Bezeichnung, die recht romantisch klingt, aber nichts anderes bedeutet als die prosaischen Begriffe „Funktionär“ oder „Parteibürokrat“. Seine Argumentation stützte er dabei auf ein Zitat von Kautsky; auf Marx und Engels hätte er sich kaum berufen können, war für diese doch das Proletariat „eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann.“ Für Marx und Engels entsteht also das kommunistische Bewusstsein aus der Lage der Arbeiterklasse; jeder Versuch, ein solches Bewusstsein von außen in diese Klasse hineinzutragen, muss vor diesem Hintergrund abgeschmackt und überheblich erscheinen.
Eine demokratische Organisationsstruktur, die durch Publizität und Wählbarkeit der Funktionäre gekennzeichnet ist, hielt Lenin unter den Bedingungen der Illegalität für undurchführbar. Wichtiger als der „Demokratismus“ ist nach seiner Auffassung „das volle kameradschaftliche Vertrauen der Revolutionäre zueinander. Und dieses ist für uns unbedingt notwendig, denn bei uns in Rußland kann gar keine Rede davon sein, es durch eine allgemeine demokratische Kontrolle zu ersetzen. Und es wäre ein großer Fehler, wollte man glauben, daß die Unmöglichkeit einer wirklich ,demokratischen‘ Kontrolle die Mitglieder der revolutionären Organisation unkontrollierbar macht: sie haben keine Zeit, an spielerische Formen des Demokratismus zu denken […], aber ihre Verantwortlichkeit empfinden sie sehr lebhaft, denn sie wissen dabei aus Erfahrung, daß eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, ein untaugliches Mitglied loszuwerden.“
Lenins „Berufsrevolutionäre“ sollen also von der Parteiführung nicht nur finanziell abhängig sein, sie sind ihr auch auf Leben und Tod ausgeliefert. Solche Überlegungen beschwören eine Atmosphäre von Konspiration, Misstrauen, Unterwürfigkeit und Drohung herauf; sie erinnern eher an Netschajew und Bakunin als an Marx und Engels.
Das widersprüchliche und spannungsreiche Verhältnis zwischen der „Philosophie“ und dem „Proletariat“ ersetzt Lenin durch das eindeutige Primat der Intellektuellen, die allein entscheiden können, was für das Proletariat gut ist. Die Organisation, die er nach diesen Prinzipien aufbaute – später als Partei neuen Typs bezeichnet –, erwies sich als Keimzelle einer revolutionären Bürokratie, die nur Teilaspekte ihres reaktionären Gegners ablehnte: sie ersetzte das orthodoxe Christentum durch den Mythos des Proletariats, sie lehnte den russischen Nationalismus ab und gab Angehörigen der anderen Nationalitäten mehr Rechte, sie ersetzte den Selbstherrscher durch ein gewähltes Zentralkomitee, das sich allerdings in der Praxis stets als Instrument der Herrschaft eines Einzelnen erweisen sollte. Unverändert übernahm sie die bürokratische Hierarchie, die sie jedoch aufgrund ihrer fortschrittlicheren Grundsätze wesentlich effizienter gestalten konnte. So blieb die Wählbarkeit ihrer Führung ein rein formales Prinzip; in Wirklichkeit ergänzte diese sich in typisch bürokratischer Manier selbst.
Lenin konnte seine rigiden organisatorischen Vorstellungen nur mit den Notwendigkeiten der illegalen politischen Arbeit begründen. Eine dauerhafte Demokratisierung des Landes hätte die Vormachtstellung seiner bürokratischen Hierarchie gefährdet. Zu einer solchen Demokratisierung kam es jedoch nie; Lenin selbst tat alles, um sie zu verhindern.
Zuerst veröffentlicht in – Bernhard Mankwald: Die Diktatur der Sekretäre. Marxismus und bürokratische Herrschaft, Books on Demand, Norderstedt 2006, S. 110-113. In der vorliegenden Fassung wurde auf den Anmerkungsapparat verzichtet.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Berufsrevolutionär, Lenin