16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Querbeet (XXVII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein galliger Moliére an süßer Erdbeertorte, Nachrichtentheater als Nachrichtengeplapper, schlimmst-schönes „Tristan“-Fieber sowie ein herrlich kranker Therapeut.

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Wieder und noch immer Wien. Das Großereignis im Festwochen-Schauspielprogramm, zweite Halbzeit: Die mit allerhöchsten Erwartungen bedachte, weil letzte Inszenierung von Luc Bondy im Amt des Festival-Chefs. Der 64-Jährige hatte es elf allzu lange Jahre inne und übernimmt nun die Intendanz des Pariser Theaters Odeon, an dessen Finanzierung gerade heftig gekratzt wird, was den in Österreich etatmäßig luxuriös Verwöhnten arg wurmt.
Man darf sagen, Bondy selbst prägte die alljährliche frühsommerliche Festivität nicht sonderlich, von einigen Theaterkunstsensationen abgesehen. Das eigentliche Programmmachen, das Hereinholen von Zeitgenössischem möglichst aus dem trendy postdramatischen Theaterbetrieb, das freilich interessierte Bondy, die europäische Berühmtheit einer konservativ auf Psychologie und Einfühlung orientierten Regiekunst, eher am Rande.
Das besorgte umso hingebungsvoller seine spitzzüngige Schauspieldirektorin Stefanie Carp, eine namhafte Dramaturgin aus Deutschland mit ausgeprägter Vorliebe für angesagte, sich gern politisch spreizende theatrale Projekte aus aller Welt (ihr Reise-Etat ist dementsprechend). Die prägten denn auch das facettenreiche (manche meinen: unübersichtliche) Festwochen-Antlitz der Ära Bondy. Zuletzt verstärkte sich der Eindruck, der Mainstream eines internationalen so genannten Avantgardebetriebs werde, werbewirksam verpackt unter dem probaten Stichwort „Globalisierung“, nur noch flott durchgewinkt.
Dagegen wirkt Luc Bondys aufwändig kostbare Abschiedsinszenierung von Molières „Tartuffe“ geradezu wie ein ostentatives Ausrufezeichen des klassischen, unverwüstlichen Schauspielerensemble- und Menschentheaters der großen alten Schule (wir gedenken einstiger Berliner Schaubühnenzeiten), die da wie neu glänzt und gleißt – etwa mit Joachim Meyerhoff, Gert Voss, Johanna Wokalek oder Edith Clever.

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Also Bondys Adé mit Molière im Akademietheater (der Dependance des Burgtheaters, dem Festwochen-Koproduzenten) als das reine Theaterglück! Freilich rabenschwarz gerahmt. Die frivole Komödie eines durch religiöse Heuchelei und durchtriebene Verführungskunst Manipulierten (Voss als Orgon), der nach Halt sucht in einer als haltlos empfundenen Welt und so dem ruchlosen Menschenfänger (Meyerhoff als Tartuffe) beinahe seine Familie nebst seiner ganzen Habe opfert. Diesen geradezu absurden Aberwitz treibt die Regie mit leichtester Hand unversehens in schwerstes Entsetzen. Da tänzelt ein rasend eloquentes Ensemble mit vor Sprachlosigkeit gleichsam offenem Mund in eleganter Wohnküchenhalle (Bühne: Richard Peduzzi) um den Herd des Grauens, an dem der Täter und seine Opfer so furchtbar sich verkeilen in Komik wie Tragik.
Ich darf sagen, man sah schon viele Inszenierungen des genialen Stücks, meist langweilend als platte Klamotte voller Pappnasen, die einem gerissenen Blödian auf den Leim gehen. Doch jetzt unter Bondy mit seinem vor Gier, Not, Wut, Wahn oder Resignation vibrierenden Menschen- (und nicht Pappkameraden-)Ensemble wurde mit verzogenem Lächeln der schauerliche Abgrund erlebbar, der in jedermann gähnt, wenn Vernunft sich kaputt schlägt an einer unstillbaren, schmerzvollen, zutiefst allgemeinmenschlichen Sehnsucht nach Sinn und Erlösung durch ein vermeintlich Höheres und Besseres.
Radikale Wirklichkeitsverweigerung als Überlebensstrategie in den Wirren des Lebens – die Folgen sind grauenvoll. Thema und Text des 350 Jahre alten Stücks strahlen frei von simplen Gegenwarts-Zutaten in vollkommen spielerischer Anverwandlung unerhört heutig. Zauber und Schrecken der Theaterkunst. Da schillert jede Figur dieser verzweifelt lebenstollen Korona in ihrer besonderen Farbe. Und berührt – ob für sich einnehmend oder abstoßend oder gar beides zusammen. Zum Happyend des bitter bösen Spiels gibt’s Kaffee und Kuchen für die gerade noch mal davongekommene Familie. Und Hausvater Orgon hat das letzte Wort: „Der Mensch, das muss ich sagen, ist wirklich ein gemeines Tier… Ein gemeines Tier…“ Da stammelt ein über sich und die Welt zu Tode Erschrockener, ein einsam und hilflos Zerstörter seine finstere Wahrheit. Die anderen schmausen Erdbeertorte.

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Für das etwas andere, dem Zeitgeist der „Projekte“ frönende Festwochen-Schauspiel steht das „Nachrichtentheater“ von Nicolas Stemann (Koproduktion Thalia Hamburg), dem wir zuletzt eine nichts weniger als epochale Inszenierung von Goethes „Faust I+II“ verdanken; auch in Hamburg. Diesmal offeriert er eine „Wirklichkeitsmaschine“. Da verliest eine Handvoll Schauspieler eine Melange just aktueller Nachrichten, denen durch theatrale Aktionen neue „Wirkungsenergien“ zugefügt werden sollen. Es bleibt trotz allerhand bühnentechnischer Mätzchen beim Sollen. Man wird nicht energetischer und nicht schlauer als schlicht durch Zeitung lesen. Was soll der Zirkus!

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In einem winzigen Off-Theater nahe der berühmten Berggasse (Freud-Museum) das Festwochen-Projekt „Schwarze Botin“, ein informatives kleines Historical, das die Redaktion der frauenbewegten „Schwarzen Botin“ vorstellt, die einstmals zwischen 1976 und 1987 in Wien und Westberlin in loser Folge den Diskurs gegen das Patriarchat führte.
Obendrein werden einige der aufrecht auftretenden freundlichen, journalistisch-poetischen Damen von damals von drei ihrer heutigen Schwestern im Geiste aus dem akademischen Milieu von Gender und Queer Theories befragt nach dem Stand gegenwärtiger Männerherrschaft und Frauenemanzipation. Das Fazit fällt gedehnt aus: Najaaa, einiges an Machismo habe sich schon erledigt…
Dazu zwei aktuelle Nachrichten: Erstens, eine Studie der Uni München ergab, dass Frauen, die steil Karriere machen wollen, sich das Lachen abgewöhnen sollten. Fröhliche Frauen wirkten inkompetent. Zweitens, die Uni Leipzig hat soeben beschlossen, dass alle akademischen Titel, ob offiziell oder umgangssprachlich, weiblich zu formulieren sind. „Guten Tag, Herr Professor“, das war gestern. Ab jetzt heißt es „Guten Tag, Herr Professorin; guten Morgen, Herr Doktorin!“ Immerhin ein Fortschritt. Oder?

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Wie feiert das vielleicht bedeutendste Opernhaus der Welt 200 Jahre Wagner? Mit Nina Stemme, der – da sind sich alle Kenner einig – absolut weltbesten Isolde-Sängerin. Sowie mit dem internationalen Spitzentenor Peter Seiffert als Tristan. 21 Minuten Beifall in der ersten Vorstellung nach der Premiere von „Tristan und Isolde“. Schon vor knapp 150 Jahren sollte die Oper hier uraufgeführt werden. Doch ausgerechnet die Wiener Hofoper gab das „eigentliche Opus metaphysicum aller Kunst“ (Nietzsche) nach 77 Proben genervt als „unspielbar“ zurück.
Mittlerweile ist an diesem Elite-Institut nichts mehr unspielbar. Und wahrlich, alle Nerven kochten; noch dazu bei einer Außentemperatur von 38 Grad: Die Philharmoniker unter Franz Welser-Möst tönten ohne Jackett im weißen Hemd. Und pflegten auch diesmal die hier übliche Unsitte: Nach dem ersten Vorhang beim Schlussapplaus packen sie flugs ihre Instrumente, sagen einander Tschüss und verlassen schnurstracks den Graben. Das Publikum draußen auf dem Karajan-Platz bei der Live-Übertragung auf LED-Wand hockte halbnackt auf den Klappstühlen und klatschte verzückt wie das Volk im randvollen Saal. Hier das Lob des Stehplatz-Systems: Für den Preis, den ein läppisches Eis am Stiel kostet, ist man drin in der Höchstkultur.
Ja, es war ein unerhörtes Ereignis für einen immerhin Wagner-Gestählten: Noch nie überstrahlten derart betörend klar die Stimmen des tragischen Sehnsuchtspaars die gigantischen Klangmassive. Der schlicht bemühte Regisseur David McVicar tat dabei nichts weiter zur Sache. Es war quasi ein gigantisches Konzert in irgendwie historischen Kostümen, irgendwie-Endzeitkulisse aus Mondlandschaft mit geborstenem Holz sowie Weltuntergangsbeleuchtung. Vielleicht braucht diese „Handlung“, so Wagner, auch gar keine Regie. Was die ketzerische Frage aufwirft, ob die wirklich großen Werke des Theaters letztlich ohne interpretatorische Spielmeisterei auskommen. Sie offenbaren ihre Wirkung ganz aus sich selbst.

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Ingomar von Kieseritzky wurde zwar in Dresden geboren, doch der Geist des melancholischen Sachsen passt ganz wunderbar ins vertrackt hellsichtige Wien. Sein Roman „Buch der Desaster“ wurde ein Riesenerfolg wie sein „Kleiner Reiseführer ins Nichts“; es hagelte Literaturpreise. Und allein schon die beiden Titel machen klar: Es geht diesem feinen Autor mit seinem reichlich schwarz funkelndem Witz um die Malaisen der so sehr unzulänglichen Großeinrichtung „Welt“. In der wir alle als einigermaßen Geschädigte umherirren.
Davon erzählt auch Kieseritzkys neuer Roman „Traurige Therapeuten“ (C.H. Beck). Dessen Held ist ein an „zivilisatorisch indizierter Hypersensibilität“ leidender Erzähler von so abwegigen wie abgründigen Anekdoten. Und dieser zarte brave Kerl weiß zudem: Gegen die Unerträglichkeit der Realität helfen keine Sachertorten, sondern nur Neurosen; Gesundheit sei eine Provokation.
Zitat gefällig? – „Frau Beata, sagte ich getragen, ich war Tierheilpraktiker, Ethnologe und ein Spezialist für verhaltensgestörte Kleintiere. Ich bemühte mich auch um Männer, Kinder und Greise als Heilpraktiker. Ich absolvierte zwei Fernlehrkurse, aber die Menschen sind verschieden –, ich denke und glaube, dass ich die Sprache der Tiere besser verstehe, wenn es sich nicht um Insekten, Schlangen oder Echsen handelt.“ – Küss die Hand, bis zum nächsten Querbeet.