13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Ehrenrettung einer Richterin

von Wolfgang Brauer

Viele Bücher sind einfach nur ein Ärgernis. Bei manchen ist es die öffentliche Aufnahme. Auf das Buch der Berliner Juristin Kirsten Heisig „Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Straftäter“ (wer hat ihr bloß zu diesem martialisch-blöden Titel geraten!) trifft Letzteres in besonderem Maße zu.

Nach einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ im November 2006 hatte die am Amtsgericht Tiergarten tätige Jugendrichterin ihren Stempel weg. „Deutschlands härteste Richterin“ titelte der Boulevard, im Februar 2009 zitierte eine auflagenstarke Tageszeitung sie als „Schrecken Neuköllns“, für manchen Schreiberling war sie eine vielbewunderte „Richterin Gnadenlos“. Damit war die unmittelbare Nähe zum hamburgischen Rechtsaußen Ronald Schill herbeigeschrieben. Im erwähnten Interview forderte Heisig, dass man auch Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft klarmachen müsse, dass es „hierzulande Aktivitäten und Regeln gibt, die für alle verbindlich“ seien. Im Umkehrschluss wurde sie sowohl von der rechten als auch der linken Flanke der in Berlin seit einiger Zeit mit äußerster verbaler Heftigkeit tobenden Integrationsdebatte als Kronzeugin zitiert. Für die einen war sie gleichsam die „Mutter Courage“ endlich ausgesprochener, bislang tabuisierter Wahrheit – nämlich der „nicht mehr kontrollierbaren Ausländergewalt“ in Berlin und Deutschland und überhaupt außerhalb des „islamischen Raums“. Für die anderen war sie einfach nur eine in eine Richterrobe gesteckte Rassistin. Und wunderbar passte dazu die in diesem Frühsommer mit kaum steigerbarer Oberflächlichkeit losgetretene Debatte über die mehr als oberflächlichen Thesen eines durchgeknallten Bundesbankers, der sich nicht zu schade schien, in die argumentativen Fußstapfen des teppichbeißenden Buchautoren aus Braunau am Inn zu treten. Leichtfertigerweise gewährte Heisigs Verlag dem „Spiegel” Vorabdruckrechte, der natürlich Passagen aus dem Buch herauspickte, die mit dessen Weltbild kongruent sind, die Debatte mithin einseitig anheizten. Kirsten Heisig schied am 3. Juli 2010 offenbar aus sehr persönlichen Gründen aus dem Leben. Man kann darüber streiten, ob die dann vom Verlag getroffene Entscheidung, das ursprünglich für September geplante Erscheinen des Buches auf die letzte Juli-Woche vorzuziehen, richtig war. Die Startauflage von 40.000 Exemplaren war binnen eines Tages vergriffen. Ich halte die Verlagsentscheidung angesichts der in der sommerlichen Presse herumwabernden Spekulationswolken inzwischen für nachvollziehbar. Mit dem Lesen des Buches werden sich viele schwerer getan haben als mit dem Kauf.

Im Eingangskapitel des Bandes schildert Kirsten Heisig mehrere Fallbeispiele jugendlicher Täterkarrieren aus dem berlin-brandenburgischen Raum. Das ist lesenswert, bringt aber wenig Neues. Allerdings lohnt es, sich mit ihren „Zahlen und Fakten“ überschriebenen Exkursen in die Polizeiliche Kriminalstatistik auseinanderzusetzen. Die Berliner Polizei ermittelte 2008 insgesamt 31.861 Tatverdächtige unter 21 Jahren. Die Zahl erscheint erschreckend hoch, sie relativiert sich angesichts der Einwohnerzahl der Stadt erheblich. Sie wird zweifelhaft, unterlegt man die „Qualität“ der Vergehen. Der kleine Ladendiebstahl und das Schwarzfahren gelten in diesem Lande de jure als kriminelles Vergehen, Raub und Mord auch. Allerdings gilt es in jedem Falle, die absoluten Zahlen zum Beispiel zu den Werten der Bevölkerungsentwicklung ins Verhältnis zu setzen. In Marzahn-Hellersdorf – um einmal vom „Arbeitsfeld“ der Richterin Heisig (sie betreute den Norden des Stadtbezirkes Neukölln, ihre dortigen Erfahrungen sind folgerichtig Schwerpunkt des Buches) wegzukommen, sank die absolute Zahl der von der Jugendgerichtshilfe betreuten Strafverfahren von 2.939 im Jahre 2007 auf 2.739 im Jahre 2008. Dieser Rückgang verliert seine positive Botschaft, setzt man ihn zum Bevölkerungsrückgang ins Verhältnis: Die bearbeiteten Strafverfahren der 14- bis unter 21-Jährigen in Marzahn-Hellersdorf stiegen von 12 Prozent im Jahre 2007 auf 13,1 Prozent im Jahre 2008 an! Diese Daten entstammen einer aktuellen Studie absolut nicht rechtslastiger Soziologen. Deren Autoren verzeichnen für Marzahn-Hellersdorf einen Zuwachs an Jugendgewaltstraftaten und bei diesen eine anwachsende „Härte und Brutalität der ausgelebten Gewalt“. Kirsten Heisig indiziert dies für Neukölln. Nicht überraschen dürfte die Erkenntnis, dass die sozialen Problemlagen in den jugendkriminellen Schwerpunktgebieten ähnlicher Natur sind: „Diese Menschen [die Autorin meint die inzwischen drei Millionen Kinder, die in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben] sind oft der verbalen Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt, sie verkommen geistig, seelisch und körperlich. Sie finden eindeutig Gewalt begünstigende Lebensbedingungen vor.“ Migrationsbedingte Lebensumstände wirken da allenfalls katalytisch. Die Autorin beschreibt, dass diese scheinbar unüberwindbaren „kulturellen Hürden“ sich sehr schnell erledigen können, wenn die Barrieren von Schreibtisch und Sprache beiseite geschoben werden.

Bitter stoßen beim Lesen die Passagen des Buches auf, in denen Heisig die relative Wirkungslosigkeit der zumeist erst im Nachtrab handelnden Jugendhilfestrukturen (zu denen ich jetzt einfacher halber den Jugendgerichtsbereich mitzähle) schildert. Die Justiz wirke vielfach nur als „Reparaturbetrieb – und dann auch noch als erfolgloser.“ Nicht zu Unrecht definiert sie die Schule „als entscheidende Stellschraube, einen Lebenslauf positiv zu beeinflussen“. Die Abschnitte, die sich mit schulischen Fragen auseinandersetzen, sind leider die schwächsten des Buches. Man kann ihr das nicht vorwerfen – wie in allen krisengeschüttelten Gesellschaften konzentrieren sich auch bei uns die Probleme überdeutlich im Bildungsbereich. Berührt hat mich die Schilderung der Bemühungen der „Richterin Gnadenlos“ im Bereich der Prophylaxe. Hier wurde von einer Vertreterin des Staates ganz unmittelbare Sozialarbeit geleistet. Die wird seit Jahren von der öffentlichen Hand mit Vorliebe „freien Trägern“ (mit entsprechender Mittelkürzung) übergeholfen. Kirsten Heisig empfiehlt nachdrücklich, „Regelsysteme wie Kitas, Schulen, Jugendämter und die Polizei“ wieder in den Vordergrund zu stellen und wesentlich zu stärken. Wer sich auch nur ein wenig im Wirrwarr der Träger- und Konzeptelandschaft allein in Berlin umsieht, wird dies nur unterstützen können.

Und das berühmt-berüchtigte „Neuköllner Modell“, das der „Schrecken von Neukölln“ entwickelt hatte? Nichts hat dieses inzwischen berlinweit praktizierte Prinzip eines für alle Maßnahmen unterhalb einer Jugendstrafe vereinfachten Verfahrens mit drakonischem Mütchenkühlen einer rachelüsternen Justiz zu tun. Es komme, schreibt Heisig, „nicht auf die Härte der Maßnahme, sondern auf die rasche Reaktion auf die Straftat an“. Das ist eine uralte pädagogische Binsenweisheit: Lob und Tadel müssen zeitnah erfolgen, sonst verlieren sie ihre Wirkung.

Und der unterschwellige Rassismus in Heisigs Buch? Ich habe intensiv danach gesucht und ihn nicht gefunden. Der Rezipient eines Kunstwerkes, sagt man, schafft dieses gleichsam ein zweites Mal. Das gilt in hohem Maße auch für die Literatur. Beim Sachbuch, auch beim politischen Buch, ist das anders. Hier ist vor jedem Urteil erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, was denn tatsächlich schwarz auf weiß gedruckt steht. Ansonsten gilt immer noch die Erkenntnis Ludwig Tiecks, dass, „wenn alle Menschen sprechen und erzählen wollen, ohne den Gegenstand ihrer Darstellung zu kennen, auch das Gewöhnliche die Farbe der Fabel annimmt.“ Kirsten Heisig hat Anspruch auf eine erneute Beweisaufnahme.

Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Straftäter. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2010, 205 Seiten, 14,95 Euro