Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Werner Tübke

Klaus Hammer

Noch in den achtziger Jahren galten die allegorisch-literarischen Mehrfigurenbilder Werner Tübkes als Synonym für Kunst aus der DDR. Was Tübke eigen war – zeichnerische Exaktheit, eine mit altmeisterlicher Technik vorgetragene Formprägnanz, plastisch-räumliche Bildorganisation, frappierende Bilderfindungen, erzählerischer Detailreichtum, Verschlüsselung des Bildgehaltes –, das gehörte auch zu den Kriterien der Leipziger Malerei, die in den sechziger Jahren ins Gespräch kam.
Die Leipziger Künstler haben nicht nur Erwartungen bedient, sondern sie haben sie auch ironisch aufgenommen und unterlaufen. Mit den Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze gab Tübke nicht nur eine Abrechnung mit einem davongekommenen Faschisten und Schreibtischtäter, sondern übte auch versteckte Kritik an den Machtverhältnissen in der DDR. Es hat lange gedauert, bis die Funktionäre die Metaphernsprache Tübkes, das malerische Zitieren aus der Distanz einer ironischen Brechung, zu tolerieren begannen. Noch 1967 wurde Tübkes Malerei auf dem VII. Parteitag der SED als »Therapie der Abschreckung« mit dem Bannfluch belegt.
Als dann Honecker 1971 an die Macht kam und von »Weite und Vielfalt« und einer umfassenden »Erberezeption« die Rede war, paßten Tübkes und Heisigs Historienbilder und Mattheuers Symbolbilder ins Konzept. Jetzt klärten und harmonisierten sich Tübkes Bilder, sie waren ein Beitrag zur Formung eines sozialistischen Homo universale, für die ihm aber nie reale Personen, sondern stilisierte Symbolfiguren Porträt standen. Der Erfolg im Westen, der mit einer italienischen Wanderausstellung der Galleria del Levante 1971 einsetzte, brachte ihm Reisen nach Italien und in die Mittelmeerländer. »In der Villa Borghese ging ich einmal auf ›Die Marter der 10000‹ von Pontormo zu und glaubte für einen Augenblick, daß da ein Bild von mir hinge.«
Tübke fühlte sich als Zeitgenosse von Bosch, Tintoretto, Veronese, El Greco; die Moderne interessierte ihn nicht sonderlich. Der Künstler tauchte gleichsam in die Geschichte und Kunstgeschichte ein, verwob sie mit zahllosen Fäden mit der Gegenwart, vereinigte in seinen Bildern eigene Anschauung mit Phantastischem und Zitaten aus Kunstwerken vergangener Epochen zu neuen Bildeinheiten und bezog dabei nach Belieben die künstlerischen Ausdrucksweisen der Renaissance, des italienischen Manierismus, des Rokoko, des 19. Jahrhunderts ein. An seinem Manierismus, an den bizarren Gesten und Körperdrehungen seiner Figuren konnte man viel über die Zwänge, Ängste, Verkrampfungen und Künstlichkeiten der DDR-Gesellschaft erfahren. (Hatte er in seiner allegorischen Bildfolge der Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze mit ihren Höllenvisionen Boschscher Prägung fast die Schwelle zum Surrealismus erreicht, gewann er in den Strandmotiven wieder eine – manieristisch gebrochene – Lebensfülle zurück.)
Die Beschwörung von Motiven der christlichen Ikonographie wie der Apokalypse, dem Jüngsten Gericht, dem Höllensturz, der Kreuzigung, der Pietà, dem Ecce homo oder der Auferstehung erfolgte mit vielfachen Antithesen, Sinnumkehrungen und Metamorphosen. Italien wurde für den Leipziger Maler das überwältigende Erlebnis von Farbe, Licht und Klassizität. Zeugnis ist das farbigstrahlende und zugleich von geheimer Dämonie erfüllte Bildnis eines sizilianischen Großgrundbesitzers mit Marionetten (1972), die Inszenierung eines Einpersonenstücks. Tübke formte nicht mehr allein Bild und Gegenbild, sondern ließ im Gewebe der Strukturenelemente variable Bezüglichkeiten entstehen, gab Mutmaßungen Raum, hinterfragte die Figurationen seiner Themen. Die Gestalt des Harlekins, als Metapher einer unruhevollen Zeit in die Bildwelt des Künstlers gerufen, wurde ihm zum Wahrheitssucher, zum Rufer und Mahner, zur Identifikationsfigur. Harlekins Tod, die immer wiederkehrende Bildformel, bot eindrucksvolle Metaphern von Leben und Tod, Gefährdung und Bewahrung.
Mehr als ein Dutzend Jahre seines Lebens hat Tübke dem Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, der Besichtigung eines ganzen Zeitalters, mit zäher Disziplin, Ausdauer und unter großer physischer Belastung gewidmet. Dieses Epos der menschlichen Existenz entrollt einen Gesamtentwurf der Weltgeschichte zwischen Schöpfung und Gericht. Das 14 Meter hohe und 123 Meter lange Gemälde mit seinen über 3000 Figuren und seiner leuchtenden Farbigkeit war von den DDR-Auftraggebern als Verbildlichung eines grundlegenden Teils des staatstragenden Geschichtsbildes gewünscht worden. Es wurde aber zum Totentanz der sich auflösenden und untergehenden DDR.
Mit dem Stolz eines Renaissance-Malerfürsten hat er nach der Wende alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe eines »Staatskünstlers« ignoriert. »Die Veränderungen in Deutschland kann man nur begrüßen«, äußerte er. »Mit meiner Arbeit haben selbige nichts zu tun.« Kritiker verwies er auf die Tatsache, daß jährlich bis zu 150000 Besucher nach Bad Frankenhausen kommen und sein phantastisches Welttheater bewundern. (Erstaunlich seine in den neunziger Jahren vollendete Auftragsarbeit, das vielteilige Altarwerk in der St. Salvatoris-Kirche in Zellerfeld. An die Stelle zitierender Distanz ist jetzt eine stärkere Einfühlung und geschlossene Form getreten.)
Umstritten war der unzweifelbar große Könner Tübke immer und wird es noch lange bleiben. Die einen sprechen von einem magischen Historismus, einem Meta-Realismus oder Meta-Historismus, für die anderen ist er der Lehrmeister einer schöpferischen Aufhebung ererbten realistischen Formwissens. Dagegen ist die Zahl derer, die ihn lediglich für einen die Kunstgeschichte plündernden, unschöpferischen Eklektizisten halten, verschwindend gering geworden.
Wie auch immer, an dem vieldimensionalen Werk dieses pictor universalis kommt niemand vorbei. Eine Werkschau Werner Tübke – Faszination Mittelmeer im Panorama Museum Bad Frankenhausen sollte seinem bevorstehenden 75. Geburtstag gelten, jetzt ist sie zugleich zu einer Gedenkausstellung geworden.