16. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2013

Im Krieg auf dem Balkan

von Horst Möller

Nur ein beängstigend enger Spalt führt durch das „Tor der Gewalt“ des Wiener Mahnmals gegen Krieg und Faschismus. Und nur wenige derer, denen ein Durchkommen beschieden war, haben sich nachher selber geöffnet. Als 87jähriger hat jetzt Leopold Rosenmayr, emeritierter ordentlicher Universitätsprofessor der Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Wien, seine Kriegserinnerungen preisgegeben. Herausgekommen ist der Versuch einer Selbstfindung.
Das am Elisabeth-Gymnasium gelernte Altgriechisch hatte der Abiturient um das Neugriechische erweitert. Sein Kalkül dabei war, zur Dolmetscherkompanie eingezogen zu werden und einem Einsatz an der Ostfront zu entgehen. Als der 19jährige im März 1944 dann tatsächlich nach Griechenland abkommandiert wurde, hieß sein Standort Megalo Pefko, ein am Golf von Eleusis gelegenes Seebad der Athener. Er sei illusionslos gewesen: „Für mich war klar, dass der Krieg für Deutschland verloren war“. Er dankte es der Bildungsarbeit der Wiener katholischen Kirche, nicht zur nationalsozialistischen Ideologie verführt worden zu sein. Allerdings habe er von den Gräueln der Konzentrationslager nichts gewusst und davon erst nach dem Krieg erfahren. Das Vorgehen gegen die griechischen Partisanen und die nach dem Auslöschen Kalavritas (am 13. Dezember 1943) auch weiterhin in seinem nunmehrigen Einsatzgebiet verübten Massaker an der griechischen Bevölkerung erlebte er indessen hautnah. Mit diplomatischem Geschick habe er in einzelnen Fällen rettend eingreifen können, aber insbesondere den schießwütigen Angehörigen der Waffen-SS machtlos gegenüber gestanden. Als Dolmetscher habe man sich immerhin unter dem Vorwand, V-Leute gewinnen zu wollen, insgeheim eine Vertrauensbasis und sogar den Ausstieg bereiten können. Warum er das Angebot nicht genutzt hat, beim Rückzug der Wehrmacht die Seiten zu wechseln? „Der Krieg ging seinem Ende entgegen. Aber ich wollte kein Deserteur werden. Ich wollte, so empfand ich es, mich nicht auf Kosten von anderen retten.“ Es hat auch nach dem Krieg noch lange gedauert, bis Äußerungen wie die des Bundespräsidenten Heinz Fischer eine gesellschaftliche Akzeptanz erlangten: „Wer der Hitler-Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg den Rücken gekehrt hat, wer sich dagegen zur Wehr gesetzt hat, an diesem Krieg aktiv mitzumachen, der ist mit dem klassischen Deserteur, der seinem eigenen demokratischen Heer in den Rücken fällt, nicht zu vergleichen“. Erst nach endlos geführten Diskussionen wird in diesem Jahr 2013 auf dem Ballhausplatz in Wien das Deserteur-Denkmal errichtet werden.
In Überlegungen zu einer Philosophie des Alterns geht Leopold Rosenmayr auf das Bedürfnis nach intellektueller und moralischer Lebensbewältigung ein. Hierfür brauche man Mut zur Dekonstruktion und müsse ego-stützende Verhaltensweisen, die sich schließlich als untauglich oder brüchig erweisen, ablegen. In diesem Sinne habe er es mit seinem Erinnerungsbuch auf sich genommen, ein zu spät erworbenes, umfassenderes historisches Bild und der eigenen Rolle darin zu umreißen. Der Druck der Vergangenheit sei so groß gewesen, dass er immer wieder hochkommende Anwandlungen von Selbstrechtfertigung gegenüber Schuld erst einmal auflösen musste. Nur wer sich selber nicht mehr verteidige, habe Chancen, frei zu werden und frei zu berichten. So bekennt er dann auch im Nachverfolgen des weiteren Geschehens, nicht ohne Gewaltanwendung durchgekommen zu sein.
Die Erbarmungslosigkeit des Krieges hat Leopold Rosenmayr auf dem Rückmarsch von Thessaloniki durch Jugoslawien bis an die Ufer der Drau unter dem Feuer des Gegners sowie in ständiger Angst vor Gefangenschaft und drohender Vergeltung für großdeutsche Verbrechen erlebt. Seine Rettung sah er durch die Führung des Generalobersten Alexander Löhr, des Befehlshabers der Heeresgruppe E, gewährleistet: „Ich habe später nur seine Rückzugstaktik bewundert. Und als ich dann erkennen musste, dass derselbe Löhr, den ich beim Rückzug von Griechenland herauf über den Balkan als eine Art Ideal angesehen hab, dieses furchtbare Bombardement [Belgrads – der Verfasser] zu verantworten hatte, bin ich sehr erschrocken.“
Wie die Ursachen für dieses Erschrecken, das heißt wie Kriege generell zu verhindern wären, hierüber hatte der Jüngling auf überraschende Weise eine Lektion aus dem Munde der reizenden Tochter eines reichen Grundbesitzers und Weinbauern in Megalo Pefko erhalten. Man müsse die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, das seien die mit Begeisterung vorgetragenen Worte der jungen Frau gewesen, Worte, die nicht ohne Echo verhallt sind: „Was aber unter den von ihr genannten gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Veränderung zum Besseren der Menschen gemeint war, das verstand ich nicht. Ich sollte das erst nach dem Krieg, durch eigene Lektüre von Schriften von Karl Marx erfahren.“
Bei den vorliegenden Kriegserinnerungen handelt es sich also nicht um ein Gespräch über Bäume. Uns Nachgeborenen bleibt zu gedenken, wie finster die Zeiten waren, denen wir entronnen sind.

Leopold Rosenmayr: Im Krieg auf dem Balkan. Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg, Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar 2012, 310 Seiten, 29,90 Euro.