von Hans Joachim Gießmann
Als sich 19 Sonderbotschafter der Staaten der NATO und des Warschauer Vertrages zum ersten Mal 1973 zusammensetzten, um über die Verringerung konventioneller Rüstungen und Streitkräfte zu verhandeln, ahnten sie nicht, daß eher zähes Sitzfleisch als diplomatisches Geschick gefragt sein würde. Die Grundzüge für ein ausgewogenes Gleichgewicht und für eine strukturelle Entflechtung von als besonders angriffsfähig erachteten Waffensystemen in der Mitte Europas waren schnell ausverhandelt. Von da ab hatten die Diplomaten auf immerhin attraktivem Posten bei ihren monatlichen Treffen auf der Wiener Hofburg kaum mehr zu tun als sich stets neu zu vertagen und festzustellen, daß die Zeit nicht reif für eine Vereinbarung war. Daß die frustrierten Unterhändler einander zunehmend besser verstanden und sie den Humor nicht gänzlich verloren, belegt die anekdotisch zu nennende erste tatsächliche Übereinkunft nach mehr als sechs Jahren ergebnisloser Verhandlungen: auf eine einheitliche, goldverzierte, blaue Krawatte.
Es ist eine ironische Fußnote der jüngeren europäischen Geschichte, daß diese Abrüstungsverhandlungen über 16 Jahre hinweg erfolglos blieben, obwohl eine Einigung für die Stabilität Europas für geboten erachtet wurde und eine Übereinkunft über deren Kernbestandteile seit langem bestand. Ab Februar 1989 gelangte in neuen Verhandlungen ein Abkommen nach fast identischem Muster binnen kurzem zur Reife, dessen Inhalt jedoch schon Makulatur wurde, bevor die Tinte der Unterschriften im November 1990 unter dem Vertragswerk getrocknet war. Die einstige Geschäftsgrundlage der auf Gleichgewicht zielenden Ost-West-Abrüstung – die Teilung Deutschlands und Europas – hatte sich gerade aufgelöst. Das vereinte Deutschland ging in folgenden Abrüstungsschritten über das politisch Versprochene und vertraglich Zugesagte hinaus – weil die kleinteilig ausgerechneten Obergrenzen des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) Waffenbestände und Streitkräfte in einem Umfang zubilligten, der weit über das für erforderlich und finanzierbar gehaltene Maß an Verteidigungsvorsorge reichte. Die größer gewordene Bundesrepublik sah sich gleichzeitig in der Not, eine überzählige Armee loswerden zu müssen, und vor die Chance gestellt, Abrüstungsverpflichtungen gegenüber Europa sogar übererfüllen zu können, ohne selbst wirklich abrüsten zu müssen. Sie konnte die früheren Bestände der Bundeswehr weitgehend erhalten, gewann neue Verbündete entlang ihrer nun vorgeschobenen östlichen Grenzen und konnte entspannt den Rückzug der russischen Truppen hinter die Linien von 1937 beobachten.
Polen und Ungarn waren die ersten Mitglieder der „östlichen Vertragsseite“, die ihre Absicht zum „Übertritt“ in das westliche Lager verkündeten. Die baltischen Staaten waren als Teil der Sowjetunion an den Wiener Verhandlungen selbst gar nicht beteiligt, machten im Zuge ihrer eroberten Unabhängigkeit aber sogleich deutlich, daß sie nun die USA und NATO als Schutzmächte gegen ihren östlichen Nachbarn erachteten. Es gehört zu den tragischen Momenten – und damit zu den Vorboten für die hier erzählte mißglückte Erfolgsgeschichte – daß Abrüstung in Europa als sicherheitspolitisches Konzept am stärksten diskreditiert wurde, als sie ihre weitreichendsten Ergebnisse erzielte.
Dabei ist die in Sonntagsreden dieser Tage erinnerte Bilanz der Abrüstung in Deutschland auch auf den zweiten Blick durchaus beeindruckend. Gegenüber den vormaligen kombinierten Beständen von Bundeswehr und NVA wurde die Anzahl der Kampfpanzer um etwa 70 Prozent, der Geschütze um fast 75 Prozent und der Kampfflugzeuge um etwa zwei Drittel verringert. Die Personalstärke der Bundeswehr ist auf weniger als die Hälfte des einstigen Truppenumfangs beider deutscher Armeen geschrumpft, und nach jüngsten Plänen steht demnächst neben der Aussetzung der Wehrpflicht eine weitere Stellenkürzung um mehr als ein Drittel bei der Bundeswehr ins Haus. Werden neben den Soldaten auch die paramilitärischen Verbände sowie die aus den beiden Staaten zurückgezogenen ausländischen Truppen in die Bilanz eingerechnet, so ergibt sich bis zum heutigen Tage eine Abrüstungsquote für das Territorium Deutschlands für uniformiertes Personal von ungefähr 75 Prozent beziehungsweise um 750.000 Mann. Solche Quoten werden üblicherweise höchstens in Demobilisierungsprogrammen nach der Beendigung eines Krieges erzielt. Auch die näheren und weiter entfernten europäischen Nachbarn haben sich überschüssiger Waffenarsenale und militärischer Verbände entledigt. Die Anzahl der Soldaten in Europa hat gegenüber dem Stand von 1988 um mehr als 2,5 Millionen Mann abgenommen.
Wie kann angesichts dieser Statistik von Mißerfolg gesprochen werden? Da sind zunächst die ebenso nüchternen Fakten der Ausgaben für militärische Zwecke und der militärischen Ausfuhren in Drittstaaten.
1990 betrug der deutsche Verteidigungsetat (einschließlich des NVA-Haushaltes für das 2. Halbjahr) umgerechnet circa 29 Milliarden Euro. Nach einer Delle in den 1990er Jahren beläuft sich der Etat inzwischen auf mehr als 31 Milliarden Euro im Jahr. Selbst unter Einrechnung der Inflationsrate bleibt unabweislich, daß die Aufwendungen pro Soldat bei verringerter Personalstärke in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten um mehr als ein Drittel zugenommen haben. Hinzu kommt die Gesamtbilanz real erhöhter Aufwendungen des militärischen Bündnisses der NATO, dem Deutschland als Mitglied angehört, dessen Mitgliederzahl sich von 16 auf 28 Staaten erhöht hat und dessen „kollektive Verteidigung“ Abrüstung auf nationaler und gemeinsamer Ebene ohne Sicherheitsverlust erlauben sollte. Allein seit 2006 haben die kollektiven Ausgaben der NATO-Staaten jedoch um jährlich sieben Prozent zugenommen.
Auch bei den Waffenexporten zeigt sich ein im Vergleich zur Abrüstung gegenläufiger Trend. Der Wert von Rüstungsgütern, die in den vergangenen fünf Jahren aus Deutschland exportiert worden sind, hat sich laut einem Bericht des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitutes (SIPRI) gegenüber dem vorherigen Fünfjahreszeitraum verdoppelt. Mit knapp neun Milliarden Euro lag der Wert der deutschen Ausfuhren im vergangenen Jahr um mehr als eine Milliarde Euro höher als im Vorjahr, und die Bundesrepublik rückte auf den dritten Platz der weltweiten Waffenexporteure vor. Interessant ist dabei auch ein Blick auf das Schicksal der ausgemusterten militärischen Bestände im Zuge der Abrüstung in den frühen 1990er Jahren. Ein Großteil der Waffen, Ausrüstungen und Munition wurde gar nicht vernichtet, sondern an insgesamt 45 Länder „abgegeben“. Zu den Empfängerländern von Kriegswaffen zur Nutzung oder zur „technischen Auswertung“ gehörte eine Reihe von Staaten, die zum Lieferzeitpunkt in kriegerische Konflikte (Golfkrieg) verwickelt waren oder sich in Spannungsgebieten befanden. Über dubiose Kanäle verwertete Waffen aus Beständen der DDR tauchten später in den Kriegen auf dem Balkan und in der Kaukasusregion auf.
Hinzu kommt schließlich das Festhalten an der nuklearen Teilhabe. Bis zu 20 taktische Atombomben der USA sollen noch bei Büchel in Rheinland-Pfalz lagern. Kann schon der militärische Nutzen nicht erklärt werden, dienen sie der NATO angeblich nur als politisches Faustpfand für nukleare Rüstungskontrolle – gegen den erklärten Sicherheitspartner Rußland. Vertrauensbildung sieht anders aus.
So gelangt die europäische Abrüstungsgeschichte zu ihrer tragischen Pointe. Trotz weitreichenden Waffenabbaus wurden erstmals seit dem Ende des 2. Weltkrieges wieder Kriege in Europa geführt. Erstmals hat sich dabei die Bundesrepublik Deutschland an Kriegen aktiv beteiligt. Und erstmals ist das grundgesetzliche Denkverbot aufgehoben, Waffengewalt als Mittel zur Wahrung deutscher außen- und wirtschaftspolitischer Interessen zu erachten. Solange militärische Mittel aber als tauglich gelten, fehlende politische Konzepte zu ersetzen, wird Abrüstung als Friedensdividende kaum nachhaltig sein – unabhängig vom erzielten Ertrag.
Prof. Dr. Dr. Hans J. Gießmann ist Direktor von Berghof Conflict Research, Berlin.
Schlagwörter: Abrüstung, Friedensdividende, Hans Joachim Gießmann, KSE, NATO, Waffenexporte, Warschauer Vertrag