von Wolfgang Schwarz
Die Maßstäbe, nach denen der überwiegende Teil der politischen Klasse (und der Mainstreammedien) hierzulande das Agieren anderer Staaten be- und gegebenenfalls verurteilt, offenbaren einen höchst fragwürdigen doppelten Standard und ein schwer erträgliches Maß an moralisierender Bigotterie.
Da bricht unser Hauptverbündeter vor zehn Jahren einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak vom Zaun und lieferte der internationalen Öffentlichkeit – unter anderem durch seinen damaligen Außenminister Colin Powell vor dem UNO-Sicherheitsrat – dafür so durchsichtige Vorwände („Besitz von Massenvernichtungswaffen“), dass die seinerzeit schon höchst unglaubwürdig waren und sich im Nachhinein überdies als glatte Lügen herausstellten. Und derselbe Hauptverbündete hat sich anschließend nicht nur bei der Behandlung von Gefangenen auf ein Niveau begeben, das dem von Terroristen gleicht und allen zivilisatorischen Normen Hohn spricht, sondern seither überdies bei ebenfalls völkerrechtswidrigen Drohnenangriffen in Pakistan, Jemen und anderen Staaten Tausende von Zivilisten – darunter Frauen und Kinder – „kollateral“ getötet. War das einer Bundestagsmehrheit eine kritische Entschließung an die Adresse Washingtons wert? Aber woher denn! Mit „Amerika“ verbinden uns doch gleiche Grundwerte und Interessen. Offenbar auch mit Saudi-Arabien, dessen Menschenrechts- und Demokratiedefizite im Bundessicherheitsrat anscheinend nicht einmal dann ein Thema sind, wenn ein größeres Los Leopard-II-Panzer nachgefragt wird.
Bei Russland liegt der Fall offensichtlich ganz anders, obwohl der Allgemeinplatz, dass Sicherheit in und für Europa ohne oder gar gegen die Atommacht Russland auf Dauer nicht zu haben ist, kaum zu widerlegen sein dürfte. Trotzdem setzen in den bürgerlichen Parteien und in den deutschen Mainstreammedien mit geradezu Pawlowscher Zwanghaftigkeit antirussische Beißreflexe ein, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Wobei sich der pathologische Aspekt nicht zuletzt darin zeigt, dass jeweils verzugslos verurteilt wird, ohne zuvor die Sachlage wirklich zu prüfen oder staatlichen russischen Motiven und Verhaltensweisen bis zum Beweis des Gegenteils so etwas wie eine Unschuldsvermutung auch nur im Ansatz zuzubilligen.
Wer dieses Verhaltensmuster sowie den darin zum Ausdruck kommenden politischen Zynismus des Westens, „der Werte nur kennt, solange sie nicht mit den eigenen Interessen kollidieren beziehungsweise Werte als eine Fortsetzung der eigenen Interessen in normativen Gewändern begreift“ (Der Spiegel), kritisiert und dem Westen dabei überdies ein ähnlich aggressives Sendungsbewusstsein bescheinigt, wie es weiland die UdSSR mit ihrer Weltbeglückungsidee vom Kommunismus sowjetischer Prägung an den Tag legte, der gerät ebenfalls in die Schusslinie. So widerfährt es derzeit Alexander Rahr, der als einer der bestinformierten und -vernetzten deutschen Russland-Experten gilt und einen guten Draht zum Auswärtigen Amt hat. Rahr ist Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums und Mitglied im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs. Zuvor war er lange Jahre leitender Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). 2012 wechselte er als Berater zum Energie-Unternehmen Wintershall.
Im Mai vergangenen Jahres hatte Rahr ein Hintergrundgespräch mit der Komsomolskaja Prawda geführt, das die Zeitung hernach – ohne Autorisierung – als Wortinterview veröffentlichte und das erst kürzlich ins Blickfeld der Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) und anschließend der Medien geriet. Seither sieht Rahr sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Putins Propaganda zu betreiben, und muss sich – etwa in der Zeit – fragen lassen: „Soll die deutsche Regierung gegenüber Putins Russland auf den Werten der freiheitlichen Demokratie beharren? Oder gebietet es die realpolitische Klugheit, antidemokratische Entwicklungen still hinzunehmen?“ Die Fragestellung entbehrt – angesichts der eingangs skizzierten doppelten Standards – nicht einer gewissen Scheinheiligkeit. Und Rahr gegenüber wird mit der impliziten Unterstellung operiert, er sei ein vorbehaltloser Parteigänger der innenpolitischen Entwicklung in Russland und ein Negierer westlicher Werte. Dass dem nicht so ist, war auch in diesem Blatt schon nachlesbar (siehe: „Im Gespräch mit – Alexander Rahr“, Blättchen 24/2012), und es ist dies noch sehr viel ausführlicher in Rahrs bereits 2011 erschienenem Buch „Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen […]“. Er macht allerdings zugleich keinen Hehl aus seiner Überzeugung, dass er das Einschlagen mit der Moralkeule auf Moskau nicht für das geeignete Instrument hält, aus westlicher Sicht negative innenpolitische Entwicklungen in Russland zu beeinflussen – zumal seiner Auffassung nach eine Mehrheit der russischen Bevölkerung die westlichen Bewertungen nicht teilt. Apropos: Das Kapitel „Was denken die Russen?“ ist eines der interessantesten und facettenreichsten in dieser Publikation.
Zuvorderst ist Rahrs Buch allerdings, und diese Position kennt man von ihm seit langem, ein Plädoyer für eine dauerhafte strategische Partnerschaft mit dem größten europäischen Staat, und er liefert dafür detaillierte politische, wirtschaftliche, historische und nicht zuletzt kulturelle Begründungen.
„Meine Vision“, so sagte Rahr vor einiger Zeit, „ist Russland als zweite Schulter für die Stabilität Europas neben der amerikanischen Schulter.“ Heutige russische Intentionen trifft er damit nach anderthalb Jahrzehnten Moskauer Frustrationen angesichts der wiederholten Ausweitung der NATO, der Ablehnung der angebotenen Energiepartnerschaft durch die EU und speziell auch Deutschland, der amerikanischen Raketenabwehrpläne und der praktischen Verweigerung gleichberechtigter Zusammenarbeit auf diesem Feld durch die NATO und zahlreicher weiterer westlicher Brüskierungen allerdings nicht mehr. Das weiß auch der Autor selbst: „Heute will Russland nicht mehr in den Westen, sondern erschafft sein eigenes Reintegrationsmodell im postsowjetischen Raum.“ Das russische Engagement in der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit, in der BRICS-Gruppe sowie die strategische Annäherung insbesondere an Peking sind ebenfalls gewichtige Indizien für eine Abkehr Moskaus von Europa und vom Westen. All das ist für Rahr aber kein Grund für Pessimismus, sondern für umso nachdrücklicheres Eintreten dafür, ernsthaft auf Russland zuzugehen.
Auf die Frage, was Russland speziell für Deutschland sei, ein Feind oder ein Freund, Partner oder Rivale, sagte Rahr nach dem Erscheinen seines Buches: darauf gebe es „keine eindeutige Antwort. Der Buchtitel meint, Russland ist ein Freund, aber noch kein richtiger, weil wir und die Russen noch mit einem Fuß im Kalten Krieg stehen.“
Alexander Rahr: Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse, Carl Hanser Verlag, München 2011, 311 Seiten, 19,90 Euro
Schlagwörter: Alexander Rahr, Europa, Russland, strategische Partnerschaft, Wladimir Putin, Wolfgang Schwarz