16. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2013

Der Aufstand, der nicht stattfand

von Ulrich Kaufmann

Der sprachgewaltige Dichter Volker Braun hat vor Jahrzehnten mit Dramen wie „Tinka“, „Großer Frieden“ und „Die Übergangsgesellschaft“ Theatersäle gefüllt. Im neuen Jahrtausend ging das Interesse an seinen Stücken auffallend zurück, und so schrieb er vor allem Prosa: Kalendergeschichten etwa, Essays, den Schelmenroman „Machwerk“, den das Theater „Am Rande“ in Zollbrücke dramatisierte. Nun gelangt erneut auf einem Umweg einer seiner Prosatexte auf das Theater: Steffen Mensching, Rudolstädter Intendant und Regisseur, hat die Spielfassung zu Brauns Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) erstellt.
Volker Braun erzählt eine fiktive Geschichte, in der sich 1993 Tausende Arbeitslose im mitteldeutschen Raum den Bitteröder Kalikumpeln auf ihrem Protestmarsch anschlossen. Er musste diese Fiktion aufzeichnen, gerade weil in der Realität flächendeckend der Widerstand gegen die Enteignungen durch die Treuhand ausblieb. Dies war die Wunde der Kalikumpel, in der das Salz brannte. Im Titel greift Braun das Wort „Haufen“ auf, einen Begriff der seit den Bauernkriegen geläufig ist. Die „hellen Haufen“, ausgerüstet mit der Losung von 1989 „Keine Gewalt“, treffen abschließend auf einer vergifteten Abfallhalde auf die bewaffneten Truppen des Staats. Die Inszenierung kommt mit einem kargen Bühnenbild aus, das einen Schlackeberg, eine abgestufte Abraumhalde, symbolisiert. Diese führt auf den Abgrund, den Theatergraben, zu.
Das Erzählgeflecht mit großer Personage wurde von Mensching auf sechs Darsteller zugeschnitten, die ständig in weitere Rollen zu schlüpfen hatten. Die Berufsschauspieler – mit ost- und westdeutscher Sozialisation – agieren gemeinsam mit den „Entfaltern“, einer Seniorenspielgruppe, die das Volk verkörpert. Die sieben Laiendarsteller, in Arbeitskleidung und Bauhelmen, reden, kaum sichtbar, aus dem Orchestergraben heraus. Die Gruppe ergänzt oder konterkariert das „oben“ Gesagte, sie bildet einen Gegenpol oder liefert ironisch, mit erhobenem Zeigefinger, die Quellenangaben zu den gerade gehörten Bibelzitaten.
Mensching und Braun haben keinen musealen Blick auf die Ereignisse um die Bischofferöder (Bitteröder) vor zwei Jahrzehnten. Sie fragen vielmehr nach aktuellen und künftigen Handlungsmöglichkeiten von Menschen, die an den Rand gedrückt werden, sich nicht gebraucht fühlen. Unruhen in Griechenland oder Spanien, auch wenn von diesen explizit nicht die Rede ist, sind mitzudenken. Es geht letztlich um die Frage, was passiert, wenn in einer Gesellschaft über deutlich spürbare soziale Verwerfungen nicht ausreichend kommuniziert wird.
Brauns dichte, reflektierende Prosa ist „schwere Nahrung“ für Leser und Theaterbesucher. Trotz des Braunschen Witzes konnte und sollte keine Stückfassung zum Schenkelklopfen entstehen. Mensching belässt das Epische, er erfindet keine Szenen im klassischen Verständnis. Die Figuren werden weder von Braun noch vom Bearbeiter individualisiert. Der Dramaturg Christian Engelbrecht und der Regisseur vertrauten Brauns Erzähltext, der einen großen Einstieg und einen dramatischen Schluss aufweist. Genau diese Momente bilden auch den Rahmen des Stücks.
Menschings Truppe schafft es, durch leitmotivische Wiederholungen und die Konzentration auf die zentralen Themen Eigentum und Gewalt das Publikum zu fesseln. Die von Braun verfremdet vorgeführte Zeitgeschichte wurde von Mensching erneut aufgebrochen: Die vor allem sprechenden Darsteller artikulieren mitunter nur Satzfragmente. Diese theatralische Versuchsanordnung, die den antiken Botenbericht, Brechts episches Theater und die Agitproptradition aufnimmt, verlangte von den Mimen Beträchtliches. In der Rudolstädter Textfassung, die der Presse vorlag, werden die Sprecher Verena Blankenburg, Laura Göttner, Hans Burkia, Horst Damm, David Engelmann und Markus Seidensticker lediglich durch die Buchstaben A, B, C und so weiter unterschieden.
Volker Braun war gut beraten, die Uraufführungsrechte für seinen Text nach Rudolstadt zu geben, an einen Ort, der Stimmungen in Moll gleichfalls erlebte und durchlebt. Einige der Theaterbesucher und Laiendarsteller hatten spürbar die Schließung des Chemiefaserkombinats am Rande ihrer Stadt noch in ihren Köpfen und Knochen.
Im anschließenden Premierengespräch erinnerte sich eine Pfarrerin aus Bischofferode tief ergriffen daran, wie sie vor zwei Jahrzehnten mit den Kumpels vor dem Reichstag saß und beschämt registrieren musste, wie viele der Volksvertreter die Protestierenden keines Blickes für würdig hielten. Neben ihr saß während der Diskussion ein Wirtschaftsvertreter aus den alten Bundesländern, der vor 20 Jahren die Schließung des „Thomas-Müntzer-Schachts“ begleitete. Er hatte Teile eines „geheimen“ Vertrages der Treuhand zu den Schließungsregularien beigebracht, die kurzfristig noch in den Spieltext integriert werden konnten. Beide Gäste zeigten sich tief bewegt und dankten allen Akteuren für diesen Theaterabend.
Der Regisseur hatte dem aus Berlin angereisten Autor für den Fall, dass ihn das künstlerische Ergebnis des Premierenabends nicht überzeugen sollte, eine kleine Flasche Schnaps („Stollenwasser“!) spendiert. Unbenutzt konnte Braun lachend das Fläschlein während der Foyer-Diskussion vorzeigen. Denn die Inszenierung dieses bitterbösen Textes hatte einen heiteren und kräftigen Schluss gefunden. Die anspielungsreiche Musik des Komponisten Rolf Fischer setzte unter der Leitung von Thomas Voigt, hinter dem Bühnenbild agierend, Kontrapunkte und schuf Kunstpausen zum Nachdenken. Am Schluss sangen die Musiker gemeinsam mit den Mimen und den „Entfaltern“ das Steigerlied, die Hymne der Bergleute. Sogar Romy Marienfeld, die Souffleuse, stimmte kraftvoll – nunmehr offiziell – mit ein. Zur Inszenierung erschien ein kleines, aber feines Programmheft mit Beiträgen von Volker Braun, Steffen Mensching, Heiner Müller, Oskar Negt, Dirk Laabs und dem jüngst verstorbenen Braun-Kenner Dieter Schlenstedt.

Wieder am 29.3. 19.30 Uhr, 13.4. und 28.4. jeweils 18.00 Uhr.