16. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2013

Katholische Zustände

von Hermann-Peter Eberlein

Sind die innerkatholischen Zustände für das Blättchen überhaupt von Wichtigkeit? War nicht einmal das Ende der Religion angesagt und steckte in dieser Perspektive nicht ein gehöriges Maß an Hoffnung auf eine Welt ohne Priesterkaste und Aberglauben, ohne Gewissenszwang und Obskurantismus? Doch dann kam über das Erstarken des Islam die Religion wieder in aller Munde; jetzt schaut uns der scheidende Pontifex von jeder Titelseite herab an und ein linksliberales Magazin wie der Stern titelt „Respekt“.
So einfach, dass man nur Freud und Feuerbach gelesen haben müsste, um von der Religion kuriert zu sein, ist es offenbar nicht. Und die größte religiöse Institution der Welt, die römisch-katholische Kirche, heischt dabei besonderes Interesse: Die Geheimnisse des Vatikan machen immer neugierig, gerade in solchen Zeiten. Darum ein Blick auf die derzeitigen katholischen Zustände in vier Schlaglichtern.
Die Kurie: Glaubt man allerlei wirklichen oder selbsternannten Insidern, herrschen an der ältesten Regierungszentrale der Erde Zustände wie im alten Rom. Das ist nichts Neues und ein Feld für Unternehmensberater und Anti-Korruptions-Agenturen. Die Kirche hat solche Verhältnisse bislang immer überlebt; uns brauchen sie nicht zu interessieren.
Ökumene: Die römische Kirche wird die Geister nicht mehr los, die sie während des Zweiten Vatikanischen Konzils gerufen hat, indem sie sich im Prinzip auf das Gespräch mit den anderen Kirchen einließ. Doch ihr Selbstverständnis macht ihr einen Umgang mit den übrigen christlichen Kirchen auf Augenhöhe unmöglich. Mit den Protestanten sowieso. Die sind in der Tat nicht Kirchen in dem Sinne, wie Katholizismus, Orthodoxie und auch die anglikanische Tradition die Kirche begreifen: eine Heilsanstalt, historisch legitimiert durch die Sukzession der Bischöfe und als göttliche Stiftung dem einzelnen Gläubigen vorgeordnet. Bei allen Affinitäten klerikaler Kreise im Luthertum: Die Protestanten wollen und können sich selbst so auch nicht sehen – ihr Ursprung liegt ja gerade in der Rebellion gegen das katholische Kirchenverständnis. Protestantische Kirchen sind nicht sakramental begründet, sondern funktional: als Orte, als Institutionen, an und in denen sich im Hören auf die Predigt, also in einem hermeneutischen Prozess, eine Gotteserfahrung vollziehen kann. Doch auch mit den orthodoxen und orientalischen Kirchen, deren Kirchenbegriff dem der Katholiken viel näher ist und um die sich Ratzinger sehr bemüht hat, klappt es immer nur dann, wenn man weit genug voneinander entfernt ist. Zu unterschiedlich sind die geistigen Welten der lateinischen und der griechischen Kirche mit ihren slawischen Töchtern, zu inkompatibel eine weltumspannende Organisation mit national organisierten Kirchen, die keine Unterordnung kennen. Dass Benedikt nie nach Moskau eingeladen wurde, sondern beim dortigen Patriarchen als persona non grata gilt, weil der Jesuitenorden mit seiner Mission in die Gefilde der Ortsbischöfe eindringt, sagt alles.
Inkulturation: die wahrscheinlich schwierigste Aufgabe für die römische Weltkirche. Denn sie hat sich nicht mit einer Kultur, mit einer Mentalität, mit einer Lebenswelt auseinanderzusetzen, sondern mit mehreren, mit vielen, die sich in erheblichen Punkten diametral widersprechen. Aufgeklärte Westeuropäer nehmen jede noch so kleine Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zum Anlass heftiger Proteste – für manche Afrikaner ist Homosexualität vom Teufel. Reiche Nordamerikaner können mit dem starken sozialen Impuls ihrer lateinamerikanischen Nachbarn nichts anfangen. Wunderglaube, Magie, Exorzismen, Reliquienverehrung sind in der Religiosität europäischer Katholiken (mit Ausnahme von Marienwallfahrtsorten wie Lourdes oder Fatima) in den Hintergrund getreten – in Afrika und Lateinamerika spielen sie eine wichtige und gesellschaftlich akzeptierte Rolle. In Europa befindet sich der Katholizismus, von Missbrauchsskandalen gebeutelt, auf dem Rückzug gegenüber einer säkularen Welt, in Lateinamerika gewinnt er Mitglieder und befindet sich gleichzeitig im Abwehrkampf gegenüber der rabiaten Mission nordamerikanischer evangelikaler Freikirchen, die ganz ungeniert mit Geld winken, sobald jemand konvertiert. Die einstmals verbindende lateinische Liturgie hat das Konzil quasi abgeschafft; damit zerfällt die weltumspannende Kirche in disparate Teilkirchen, die in völlig unterschiedlichen kulturellen Milieus mit konträren Problemen zu tun haben. Ratzingers Versuch, die lateinische Messe wieder stärker zu etablieren, wird zum Scheitern verurteilt sein. Der Spagat, eine deutsche katholische Laienbewegung mit ihren Forderungen nach Abschaffung des Pflichtzölibats, Zulassung von Frauen zum Priesteramt und von Geschiedenen zur Eucharistie und zugleich afrikanische Fundamentalisten, gleichzeitig Opus Dei und Hans Küng zu integrieren, kann nicht gelingen. Der Zerfall der anglikanischen Kirchengemeinschaft, die sich an der Weihe von Frauen und Homosexuellen aufreibt, liefert das beste Beispiel. Man kann es auch in jeder beliebigen deutschen Großstadt beobachten: an der Verunsicherung kirchenverbundener Katholiken angesichts von Seelsorgeteams, die etwa aus einem liberalkonservativen deutschen Priester, einem progressiven Laientheologen, einer Nonne aus Nigeria und einem indischen Kaplan bestehen: Von letzteren werden auf einmal religiöse Praktiken eingefordert, die sich bei uns seit dem Konzil verflüchtigt haben, so die regelmäßige Beichte vorehelichen Sexualverkehrs. Ein Papst aus dem Süden muss keine fortschrittliche Lichtgestalt, er kann auch mirakelgläubig, moralisch erzkonservativ und patriarchalisch sein. Da steht vermutlich selbst dem säkularsten Franzosen oder Deutschen ein flüssig Latein redender, sich sein Leben lang um die Vernünftigkeit des Glaubens (wie er sie versteht!) bemühender und historisch denkender Benedikt kulturell näher.
Das Papstamt: An ihm scheint alles zu hängen, genauer: an der Person, die es ausübt. Sie soll eine Einheit repräsentieren und in gewisser Weise überhaupt erst herstellen, die sich strukturell immer mehr verflüchtigt. Das macht die Person so wichtig, und damit ist sie – egal, wer es sein wird – heillos überfordert. Ein Papst soll mit seiner Person ein Amt tragen, das in seiner Funktion nicht selbstverständlich ist – in früheren Jahrhunderten trug das Amt selbstverständlich die Person, und zwar jede. Ob ein Papst gläubig war oder nicht, ob er sich als Diener der Kirche oder als italienischer Fürst verstand, ob er durch Bestechung oder durch frommen Eifer auf den Stuhl Petri gelangt war, spielte keine Rolle, solange die kuriale Bürokratie funktionierte. Dem Adligen, der um Annullierung seiner Ehe einkam, dem Priestersohn, der sich legalisieren lassen wollte, um seinerseits eine geistliche Pfründe annehmen zu können – ihnen allen war völlig egal, wer da gerade auf dem Thron saß, wenn denn nur der Stempel stimmte. Die Pornokratie der miteinander verwandten Tuskulaner-Päpste im 10. und 11. Jahrhundert hat das Amt ebenso wenig in seinen Grundfesten erschüttert wie die Renaissance-Päpste. Je weniger jedoch die Kirche als Institution in der Neuzeit unbefragt akzeptiert wurde, umso mehr wurde das Papsttum überhöht: im 19. Jahrhundert durch das Unfehlbarkeitsdogma, im 20. Jahrhundert durch mediale Omnipräsenz. Nie war die katholische Kirche so sehr Papstkirche wie heute. Daran muss jede Person, die dieses Amt bekleidet, scheitern.
Das Auseinanderfallen der katholischen Kirche in nationale und theologische Lager werden auch die kommenden Päpste nicht dauerhaft verhindern können. Vielleicht müssten sie es akzeptieren und sich mit einer Rolle begnügen, wie sie der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel in der Orthodoxie spielt: als Ehrenprimas historisch verbundener eigenständiger Kirchen ohne jede Möglichkeit der Einflussnahme. Damit könnten sich wohl sogar konziliante Protestanten anfreunden: Es gibt nun einmal westlich von Griechenland keine christliche Gemeinde, die älter wäre als die römische – das kann man neidlos zugestehen. Doch dafür müsste das Papsttum auf einen Anspruch verzichten, den es seit frühesten Zeiten erhebt: nicht nur für eine Gruppe von Christen zu sprechen, sondern für Christus. Und diesen Schritt wird es in absehbarer Zeit nicht tun.