16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Querbeet (XXI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Musikantenstadel der Unesco, nackte Tatsachen, verlorene Paradiese und eine Königin, solarbetrieben.

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Nichts ist doofer als Hannover. Mit diesem heute noch virulenten Spruch wurde mir als neugierigem Ostler gleich nach der Wiedervereinigung die niedersächsische Landeshauptstadt madig gemacht. Und schon damals fand ich: Bekloppt! Denn Hannover zeigt sich als gefällige kleine Großstadt mit wieder errichtetem verwinkeltem Fachwerkhäuschen-Stadtkern, nostalgisch saniertem Hauptbahnhof, einer berühmten Backwarenfabrik nebst goldenem Keks im Logo und mit Niki de Saint Phalle und Kurt Schwitters im Sprengel-Museum an der Maschsee-Oase sowie dem weitläufigen Barock der Herrenhäuser Gärten (die „grünste Landeshauptstadt“ schwärmt Hannovers Tourismusmarketing). Und dann die edel herausgeputzten Theater. Mit seinem bemerkenswert spannenden Schauspielprogramm steht Intendant Lars-Ole Walburg seinen beiden berühmten Vorgängern Khuon (heute Deutsches Theater Berlin) und Schulz (heute Dresden) nicht nach. Und die Oper wurde kürzlich erst von einem Londoner Opernführer euphorisch zu den zehn besten der Welt gezählt. Außerdem, heißt es, biete H. die hierzulande beste Fotojournalismus-Ausbildung und der Jazzclub am Lindener Berg sei sogar weltberühmt. Mit 1.300 Studenten ist die Musikhochschule zwar bloß die zweitgrößte Deutschlands, aber sie liefert die meisten Preisträger. Und betreibt – als einzige – eine Pop-Abteilung. Außerdem: Die Deutsche Grammophon hat hier ihre erste Langspielplatte gepresst, Sennheiser-Mikrophone aus H. gehören zu den besten der Welt wie auch die Elektro-Gitarren der Firma Duesenberg. Überhaupt: In keiner anderen deutschen Stadt arbeiten so viele Menschen in der Musikbranche – auch wenn Lena Meyer-Landrut, The Scorpions und Fury in the Slaughterhouse meist unterwegs sind. Also hat die Kommune mit wirtschaftspolitischem Hintersinn und gar nicht doof den Antrag gestellt auf den Ehrentitel „Unesco Musikstadt“. Den einzigen bislang in Deutschland vergebenen Titel dieser Kategorie führt Berlin als „Unesco-Designstadt“. Ist äußerst branchenförderlich! – Übrigens, in der Oper gab’s eben erst „Orest“ von Manfred Trojahn als deutsche Erstaufführung. Und kommendes Wochenende ist Opernball. Motto „Einfach überirdisch!“.

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Das Hoffen auf Glück einschließlich der ewigen Jagd danach zeigt Ulrich Seidl in seinen schwer beunruhigenden Filmen. Besonders verstörend: Die von Sensationslust völlig freien Nahaufnahmen scheinbar harmloser oder eben auch schwerer, ja schwerster seelisch-geistiger Deformationen. Der Österreicher Seidl (siehe auch Querbeet X) hat einen selten scharfen Blick auf die Abgründe in uns; auf groteske Seelenverrenkungen, fürchterliche Verdrängungen wie fröstelnde Ernüchterungen. Viele können das kaum aushalten, nennen es skandalös, denunziatorisch, voyeuristisch („Ekelfim“) – wie auch Seidls neues Opus, die „Paradies“-Trilogie, deren erster Teil „Liebe“ soeben ins Kino kam.
Da gönnt sich die mittelalterliche Matrone Teresa (Margarethe Tiesel), alleinerziehende Mutter, beruflich etabliert, eine Auszeit von ihrer Einsamkeit. Und fliegt nach Kenia, um sich dort, bei einem der am Flamingo Beach paradierenden knackigen Strandjungen etwas Zuwendung oder gar ein kleines Stückchen Glückseligkeit zu kaufen.
Ein so rührendes wie grauenvolles Unterfangen. Monströs komisch, für Momente sogar unglaublich schön, um gleich wieder ins Entsetzliche zu kippen: Die verführerische Hingabe von bettelarmen schwarzen Kerlen an wie sie sagen „Sugarmamas“ mit ordentlich Euros in der Strandtasche – ein für beide Seiten erquickliches Geschäft im Wohlstands- und Machtgefälle zwischen Erster und Dritter Welt.
Ein leiser, zarter, zugleich gnadenlos harter Film über eine für Geber wie Empfänger große Hilflosigkeit, die immer wieder unversehens in Gewalt kippt. Eine schmerzliche Herz- und Hirnverrenkung. Mit der großartigen Margarethe Tiesel, die mit bewundernswerter Hingabe und Genauigkeit die psychischen und physischen Entblößungen ihrer tragischen Sehnsuchtsfigur zeigt. Es brachte ihr in Cannes die Nominierung für den Europäischen Filmpreis 2012 als „Beste Schauspielerin“.
Teil zwei der Seidl-Trilogie, „Paradies: Glaube“, erzählt von einer radikalisierten, mit Marienstatue in der Reisetasche missionarisch von Haus zu Haus ziehenden Katholikin (erschreckend großartig: Maria Hofstetter als Anna Maria). Eine glücklose Ehe und verzweiflungsvolle Einsamkeit deformierten sie zur fundamentalistischen Christin, die ihr alleiniges Heil darin sieht, Menschen vorm grassierenden Unheil der Welt zu retten – wenn es sein muss mit Gewalt. Eine tragische Verirrung, die eine Gutmeinende zwanghaft zur gnadenlos Bösen werden lässt. Ein schauerliches Lehrstück über (jedweden) Extremismus, der letztlich alles, auch den Extremisten selbst, zerstört. Die Jury vom Filmfest Venedig 2012 vergab ihren Spezialpreis dieser psychologisch subtilen, sozial genauen und politisch höchst bezüglichen Studie über eine zum Gotterbarmen erbarmungslose Weltverbesserin, an der schließlich ihre eigene Glaubenswelt zerbricht. Konservative kirchliche Kreise klagten gegen Ulrich Seidl wegen Blasphemie.
Teil drei „Paradies: Hoffnung“ handelt von der pubertierenden Tochter der Teresa (aus „Liebe“). Das Mädchen geht in ein Camp für übergewichtige Teenager, um sich dort schön zu diäten. Sie wird nicht dünner, aber verknallt sich in einen vierzig Jahre älteren Mann. „Hoffnung“ lief vor wenigen Tagen zu den Berliner Filmfestspielen. Mit der sympathisch molligen Melani Lenz („will erst mal Bürokauffrau lernen“) auf dem Roten Teppich. Kommt demnächst ins Kino. „Paradies“ – für Seidl ein Dreisprung in den Triumph. Wann schon gelang es einem Filmregisseur, mit drei Produktionen hintereinander auf den drei europäischen Top-Festivals (Cannes, Venedig, Berlin) zu glänzen. Unglaublich, aber erschütternd wahr.

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Wieder mal bei Dussmann, Berlin-Friedrichstraße. In Deutschlands größter Bücherstube, luxuriösester Lesehalle; quasi der Sparbüchse für neugierige Leseratten. Man schnappt sich das Gedruckte, schmökert – und muss nicht kaufen. Man lümmelt in Leder-Fauteuils mit Blick auf die 18 Meter hohe Pflanzen-Wand mit Wasserberieselung. Der „Vertikale Garten“ des französischen Gründaumen-Künstlers Patrick Blanc. Ein Hauch von Urwald (6672 Pflanzen, 157 Arten). Und daneben – dramatischer Kontrast – die originale Monumentalplastik „Sphinx der Königin Hatschepsut“ (Leihgabe Ägyptisches Museum von fast nebenan). Und dann ein paar halbe Stunden gemütlich Blättern. Etwa in Tuvia Teneboms Reportage „Allein unter Deutschen“, die uns Seite für Seite eintrichtert, was wir immer schon wussten: nämlich wie sozial und politisch unerträglich wir alle hierzulande nach wie vor sind. Dann Pola Kinskis traumatische Erinnerungen mit dem so grausig anzüglichen wie entsetzlich bezüglichen Titel „Kindermund“; die Frau kann wirklich sehr gut schreiben, auch über Schlimmstes. Wie Maxim Leo auch. Nur dass es bei ihm nicht ganz so schlimm kommt, aber auch nicht eben harmlos („Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte“).
In der englischen Abteilung gegenüber dem stoisch meditierenden Monumental-Wesen aus Stein von 1475 v.Chr. die neckische Kleinplastik „Solar-Queen“ aus rosa Plastik von 2013. Es ist die amtierende englische Königin, 25 Zentimeter mit lässig geöffneter Handtasche, in der eine Solarzelle steckt. Die zwingt Elizabeth bei Lichteinfall zum Dauerwinken. Für 15 Euro käuflich zu erwerben als überflüssige Schreibtisch-Deko neben der unerlässlichen Schreibtischlampe.

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In Querbeet XVI war die Rede von einer herbstlichen Ausstellung mit Bildern nackter Männer in einem Linzer Museum. Das gibt’s jetzt auch in Wien im hochmodernen, hochberühmten Leopold-Museum: „Nackte Männer von 1800 bis heute“. Letzter Schrei und brandaktueller Tipp für unsere hoffentlich zahlreiche Wiener Leserschaft: Am Abend des 18. Februar dürfen zur Steigerung des Kunstgenusses alle Besucher splitterfasernackt in die hoffentlich gut geheizte Kunsthalle; verschiedene Nudistenvereine haben das durchgesetzt. Also Kleider und Hosen runter und den Deodorant nicht vergessen. Aber brav bleiben – wenigstens bis zum nächsten Querbeet.