von Angelica Balabanoff
Wenn man von Lenin als dem Gründer der sowjetrussischen Gesellschaftsordnung und ihrem unmittelbarsten und verantwortlichsten Vertreter spricht, so kann man nicht umhin, gleichzeitig von Trotzki zu sprechen.
In den entscheidenden und schwierigsten, in tragischen und hoffnungsvollen Augenblicken wurden ihre Namen vereint ausgesprochen, nicht nur im Gespräch und im Urteil über das Regime, sondern vor allem in den Gedanken unzähliger Menschen, gleichgültig, ob sie Anhänger und Bewunderer oder Feinde und Opfer des Regimes waren. Weder im Lob noch in der Verwünschung wurden ihre Namen, ihre Verdienste, ihre Schuld, ihre Verantwortung getrennt.
Nicht einmal die objektivste, unparteilichste Untersuchung der Zeitgenossen und Zeugen der Tätigkeit jener beiden Revolutionäre könnte mit Sicherheit die Frage beantworten, wem von den beiden die wichtigere Rolle in der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki in Rußland und in der Festigung dieser Macht zukommt.
Das der Wahrheit am ehesten entsprechende Urteil ist, daß keine Grenzlinie zwischen beiden gezogen und nicht festgelegt werden kann, welchen Anteil der eine oder der andere an den einzelnen Ereignissen hatte. Es war die Verschmelzung ihres eisernen Willens und ihrer so verschiedenen Temperamente – durch die wissenschaftlichen Überzeugungen gefestigt und durch die unbedingte Treue gegen die Sache der Revolution verstärkt –, die es ihnen ermöglichte, das Regime zu schaffen und aufrechtzuerhalten, das unter mehr als abnormen Umständen gegründet und von Mächten bedroht war, die unbesiegbar schienen, so überlegen waren sie an Anzahl, militärischer Ausrüstung und politischer Unterstützung.
Es braucht hier nicht wiederholt oder bewiesen zu werden, daß die Hauptperson bei allen Kollektivbewegungen immer die Masse ist. Das verhängnisvolle Beispiel Sowjetrußlands beweist es mit tragischer Klarheit: Die Revolution entartete, wurde zur blutigen Karikatur dessen, was sie hätte sein können und sollen, weil die Massen, die beteiligt waren, nicht reif waren, die Errungenschaften der Revolution zu bewahren und zu festigen.
Dies war angesichts der mangelnden Reife eines primitiven und rückständigen Landes nicht möglich, das zum Vorkämpfer einer gesellschaftlichen Umwälzung geworden war, die ein ganz anderes wirtschaftliches Entwicklungsniveau verlangt hätte als das Rußlands.
Es versteht sich von selbst, daß die Initiative und die Autorität des einzelnen um so mehr ins Gewicht fallen, je rückständiger die Massen sind. Die Entstellung der Oktoberrevolution ging Schritt für Schritt mit der Zurückdrängung der Massen durch Parteifunktionäre vor sich, die zunächst in gutem Glauben handelten – mit dem Ergebnis, daß die Revolution entartete.
Mit einzigartiger Klarsichtigkeit sagte Trotzki – zu der Zeit, als er noch Menschewik in heftigem Widerstreit mit Lenin war – die Entwicklung der Bolschewiki voraus: Innerhalb der Sozialdemokratie werde „die Parteiorganisation die Partei selbst, das ZK die Parteiorganisation und schließlich ein Diktator das ZK ersetzen“.
Leider hat die Erfahrung Trotzki nicht nur recht gegeben, sondern auch gezeigt, daß die Folgen weit verhängnisvoller waren, als vorherzusehen war. Die Entwicklung, die Trotzki vorausgesagt hatte, erstreckte sich auf ein unermeßliches Land und mit der Zeit auch auf andere Länder!
Wenn es einerseits nicht möglich ist, eine Grenzlinie zwischen den Verdiensten und der Verantwortung der beiden Hauptpersonen der Revolution zu ziehen, so muß andererseits gesagt werden, daß die von ihnen erzielten Leistungen eher der Unterschiedlichkeit als der Ähnlichkeit ihrer Charaktere zu danken sind. Beide, Lenin wie Trotzki, hatten das einzige Bestreben, der Sache des Volkes zu dienen; diesem Ziel widmeten sie ihr ganzes Dasein. Aber, aus der Nähe betrachtet, taten sie dies auf sehr verschiedene Weise.
Lenin erfüllte, was er für seine Pflicht hielt, auf unpersönliche Art. Er ließ die Statistiken sprechen, die geschichtliche Erfahrung, die Lehren der Meister des Sozialismus, er gebrauchte seine unerbittliche Logik, faßte seine Schlußfolgerungen zusammen, polemisierte mit den Gegnern und Feinden seiner Anschauungen, griff seine Widersacher an, verspottete und zermalmte sie, indem er sich mancher Mittel und Ausdrücke bediente, die nicht zu rechtfertigen, vieler, die nicht zulässig waren. Lenin suchte zu überzeugen, forderte Gehorsam, aber alles ohne seine eigene Persönlichkeit zur Geltung kommen zu lassen.
Wer sich ihm voll Schüchternheit und Befangenheit näherte, erhielt den Eindruck, mit einem Gleichgestellten zu sprechen, dieser konnte recht oder unrecht haben, aber er war gewiß kein Übermensch; er stellte sein Wissen nicht zur Schau und verwischte mit seinem Benehmen den tatsächlichen oder scheinbaren Unterschied zwischen demjenigen, der studiert hat und etwas weiß, und dem, der sich unterlegen fühlt, zwischen dem Machthaber und dem Untertanen.
Dieses Verhalten kostete Lenin keinerlei Anstrengung, es entsprach seiner Natur, seinem „wahren Ich“. Das war nicht etwa nur die Folge seiner sozialistischen Gesinnung und seiner Überzeugung von der Gleichberechtigung der Menschen; er benahm sich so, weil er von Natur aus nicht anders gekonnt hätte. Ich betone diese Seite seines Charakters, weil sie mit der Art, wie er Menschen, Theorien und Argumente, die seinen Ansichten widersprachen, behandelte, unvereinbar scheint. Für seine Gegner war er ein intoleranter, starrköpfiger, grausamer und ungerechter Feind; aber es handelte sich stets um Feinde der Bolschewiki, nicht um seine persönlichen Gegner.
Oft hört man sagen, Lenin sei „bescheiden“ gewesen. Meines Erachtens entspricht dies nicht den Tatsachen. Bescheidenheit setzt ein Urteil voraus, einen Vergleich zwischen sich selbst und den anderen. Lenin war das gleichgültig.
Kennzeichnend für ihn war der Wunsch, von anderen zu lernen, besonders, nachdem er zur Macht gekommen war. Er fragte die Bauern nach allem, was mit der Landwirtschaft zu tun hatte, er wollte über die Zustände in diesem oder jenem weit entfernten Dorf Aufschluß haben, er bat die Kenner der lokalen Verhältnisse um Rat. All das tat er nicht in auffälliger Weise und betont, sondern einfach und selbstverständlich. Oft rief er die Bauern zu sich, um aus ihrem Munde ihre Einwände gegen das Regime, gegen die Verwaltung zu hören und um über die Bedürfnisse der Bevölkerung unterrichtet zu sein. […]
Trotzki dagegen fühlte, dachte und handelte ganz anders. Er diente dem revolutionären Ideal mit der gleichen Selbstverleugnung wie Lenin; aber jede seiner Handlungen, jeder seiner Gedanken sollte den Stempel seiner Persönlichkeit tragen: „Das hat Trotzki gesagt, das hat Trotzki geschrieben.“
Die Art und die Form, in der er seine Ideen darlegte, waren ihm nicht gleichgültig, noch war es ihm gleichgültig, was man über ihn sagte oder selbst nach seinem Tode sagen würde. Er schien sich immer im Spiegel der Geschichte zu betrachten, um zu sehen, welcher Ruhm und wieviel Bewunderung ihm von seiten der Nachwelt gezollt werden würden. Er beschränkte sich daher nicht darauf, wie Lenin, die Statistiken und die Erfahrung sprechen zu lassen, sondern er sprach, schmückte die Tatsachen und legte sie in der ihm eigenen, meisterhaften Art aus.
Schon als Junge soll er sich gern gezeigt haben, gern bewundert worden sein, seine Schulkameraden und Lehrer mit seinem Wissen und mit allem gern verblüfft haben, was ihn vor seinen Altersgenossen auszeichnete. Wahrscheinlich kam dieser Wunsch, gelobt und bewundert zu werden, von seiner außergewöhnlichen Begabung. Die Angst, nicht genügend geschätzt zu werden, nahm mit den Jahren in dem Maße zu, in dem sich seine Gaben zeigten und er sich ihrer bewußt wurde.
Obwohl er als Jude keinerlei Verfolgungen oder Feindseligkeiten erlitten hatte, fühlte er sich möglicherweise doch durch seine Herkunft behindert und suchte eine Entschädigung dafür in der hohen Meinung, die er von sich hatte und die die anderen teilen sollten. Durch diese hochmütige Art stieß er allerdings die Menschen eher ab, als sie an sich zu ziehen. Er suchte und fand Befriedigung in der heftigen Polemik, die seine Schriften kennzeichnete. Auch der Polemik drückte er einen persönlichen Stempel auf; er schuf sich Feinde schon allein durch sein übersprudelndes Temperament und durch die beißende Ironie, mit der er die anderen behandelte, vielleicht auch weil man ihn beneidete. Er schaute auf alle und alles von oben herab.
Trotzki machte sich durch diese innerliche und äußere Haltung sogar bei seinen Kampfgenossen unbeliebt. Selbst wenn er freundlich sein wollte, umgab er sich mit einer Eisschicht.
Lenin erklärte, lehrte, Trotzki verordnete, befahl.
Dieser Unterschied machte sich erst recht bemerkbar, nachdem sie zur Macht gekommen waren. Lenin, das Oberhaupt einer unübersehbaren Volksmasse, ein Mann, der unbegrenzte Autorität besaß und von dessen Wort Millionen und Millionen Menschen, Anhänger und Feinde, abhingen, war der gleiche Lenin wie vorher. Er war unverändert geblieben.
Wenn er sich, genau wie früher, mit raschen Schritten der Tribüne näherte und ohne auf den Beifall zu achten, ohne Vorrede und ohne Umschweife sofort zur Sache kam, hatte er noch den gleichen Tonfall, die gleichen Gesten und gebrauchte die gleichen Worte wie früher. Er war und blieb der gleiche Dorfschulmeister, der, gewissenhaft und felsenfest überzeugt, bemüht ist, seinen Schülern die Grundsätze seiner Lehre einzupauken. Und er verließ das Rednerpult mit demselben Schritt und in derselben Haltung, in der er sich früher von anderen Rednerpulten entfernt hatte und von anderen Zuhörern, die ihn auch hätten auspfeifen können. Klatschen oder Pfeifen: Das eine ließ ihn so kalt wie das andere.
Trotzki hingegen näherte sich der Tribüne mit schweren, langsamen, fast feierlichen Schritten. Er war kein gewöhnlicher Sterblicher mehr, nicht mehr der Vertreter einer Parteidoktrin. Er war der Heerführer, der Mann, der nicht nur seiner selbst sicher ist, sondern auch seiner Untergebenen, über die ihn seine hervorragende Begabung, seine Siege, die auch die ihren sind, und die Niederlagen, die er dem Feind zuzufügen gewußt hat, gestellt haben.
Die Verwandlung, die das hohe Amt und die glänzenden militärischen Siege in ihm bewirkt hatten, zeigte sich in seiner Art, zu sprechen, in ganz überraschender Weise. Schon als wir in Sowjetrußland zum ersten Male von der gleichen Tribüne sprachen, war ich davon tief beeindruckt.
Während der Emigration in der Schweiz hatten wir oft Gelegenheit gehabt, vor demselben Publikum zu sprechen. Zu jener Zeit gehörten weder er noch ich einer der Fraktionen an, in die sich die russische Sozialdemokratie gespalten hatte. Wir waren Marxisten schlechthin; die Organisationen, die unseren Standpunkt teilten, luden uns oft beide zum Sprechen ein.
Besonders ist mir eine feierliche Kundgebung in Genf im Jahre 1904 in lebhafter Erinnerung, zum Gedächtnis des Vorkämpfers der deutschen sozialistischen Bewegung, Ferdinand Lassalle, der in der Nähe von Genf 1864 im Duell gefallen war. Trotzki hatte eine polemische Ansprache an die russischen und polnischen Emigranten und Studenten gehalten, während ich – in den jeweiligen Sprachen – zu den italienischen, in der Schweiz ansässigen Maurern, den französischen Uhrmachern und den deutschsprachigen Arbeitern gesprochen hatte. Die Bemerkungen einiger unserer Zuhörer sind mir noch gegenwärtig: „Aber ihr habt es gar zu eilig, liebe Genossen; ihr seid die schnellsten Redner der internationalen Bewegung“, sagten die ältesten und erfahrensten.
Als er in Sowjetrußland in seiner Eigenschaft als militärisches Oberhaupt sprach, hatte es Trotzki nicht nur nicht mehr „eilig“, im Gegenteil, er skandierte die Worte. Es war dies eine bemerkenswerte Anpassung an seine Hörer, die roten Soldaten, größtenteils Bauern. Er wollte ihnen jegliche Anstrengung, ihn zu verstehen, ersparen; seine Worte, kaum waren sie ausgesprochen, sollten schon ein Befehl für seine Zuhörer sein, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft gaben.
Die Stimme des Heerführers klang fest und voll, als sei sie das Echo der marschierenden Krieger, von deren Schritten man den Takt zu vernehmen glaubte. Es war eine Verschmelzung des Willens, der Vorsätze, des Entschlusses, bis zum unausbleiblichen Sieg zu kämpfen. Damals wurde es mir klar, welch große Rednergabe er besaß, und warum manche ihn mit den größten Rednern des Jahrhunderts verglichen.
Die Verwandlung, die er durchgemacht hatte, zeigte sich natürlich auch auf anderen Gebieten. Er trug Uniform und grüßte militärisch, so als habe er das sein Leben lang getan; das Zeremoniell, das uns immer dumm und konventionell vorgekommen war, schien er nun ernstzunehmen. Wenn ich ihn reiten und die Ehren entgegennehmen sah, die seinem Rang zukamen, und wenn er Befehle erteilte, konnte ich nicht umhin, zu lachen.
Auch bei anderen Revolutionären, die von Natur aus Antimilitaristen sind, habe ich ähnliche Verwandlungen mitangesehen; offenbar übt die militärische Macht auch auf die Rebellischsten ihre Anziehungskraft aus.
Es ist schwer zu verstehen, wie Lenin, der keinerlei Ader für das Formelle hatte und der ein erklärter Feind jeder Art von Exhibitionismus war, der – sogar nach Aussage seiner Gegner – keine Eitelkeit kannte, so eng, so harmonisch mit einem Menschen von so grundverschiedener Veranlagung und Mentalität zusammenarbeiten konnte.
Die Antwort auf diese Frage enthält zugleich die Antwort auf viele andere, ähnliche Fragen: Lenin hielt seine Meinung von einem Menschen als Persönlichkeit und seine Meinung von dem gleichen Menschen als Instrument im Dienste der Bolschewiki strikt auseinander.
Als Mensch war Trotzki ihm nicht sympathisch. Schon bei ihrer ersten Begegnung, als Trotzki zu ihm nach London kam, empfand Lenin, obwohl er die Begabung und die Vielseitigkeit seines jungen Gastes erkannte, eine gewisse Abneigung gegen das übermäßige Selbstvertrauen, das dieser an den Tag legte. Auch in seinem Testament warnte Lenin vor diesem Fehler Trotzkis, wenngleich er seine hervorragenden Eigenschaften und Verdienste anerkannte.
In den Jahren des Exils war Trotzki einer seiner gefährlichsten Gegner. Seine polemischen Auseinandersetzungen mit Lenin waren damals persönlich, gehässig und feindselig.
Die Februarrevolution überraschte Trotzki in Amerika, sein brennender Wunsch, an Ort und Stelle zu sein und sich mit Leib und Seele dem Kampf zu widmen, stieß auf vielerlei Schwierigkeiten von seiten der Behörden der Länder, die er auf seiner Reise nach Rußland hätte durchqueren müssen. Lenin war bereits dort eingetroffen.
Als Trotzki nach erbitterten Kämpfen, in denen er den Befehlen der Behörden zuwiderhandelte und große Gefahren bestand, endlich in Petrograd ankam, war er „mit Gott und der Welt verfeindet“. Die Feindseligkeit, mit der man ihm begegnete, war beschämend, deprimierend, äußerst bitter für ihn… Die Bolschewiki betrachteten ihn als einen „Verräter“ und gingen ihm aus dem Wege; die Menschewiki taten das gleiche. Meister der Polemik, der er war, wußten seine ehemaligen menschewistischen Mitstreiter, daß sie von ihm keine Nachsicht zu erwarten hatten.
Trotzki, der schon als ganz junger Mensch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte – als Präsident des ersten Petersburger Sowjets und wegen der Verfolgungen, Verhaftungen und Gefängnisstrafen, die über ihn verhängt worden waren –, fand sich ganz allein und nicht in der Lage, eine Tätigkeit ausüben zu können. Dies war für ihn besonders schwer zu ertragen, da er an Energie und Tatendrang – vom Feuer der Revolution angespornt und vom Rachedurst gegen die Feinde der Arbeiterklasse aufgebracht – übersprudelte.
Während dieser kurzen Zeit war ich von allen Sozialisten die einzige, die versuchte, Trotzki Gesellschaft zu leisten. Ausgestoßen und boykottiert wie er war, litt er schwer an seiner Vereinsamung.
Da eine gewisse Anzahl russischer Mitglieder der Zimmerwalder Bewegung in Petrograd anwesend waren, nutzte ich die Gelegenheit, eine Sitzung einzuberufen, um zu entscheiden, ob wir Zimmerwalder an einer Friedenstagung des rechten Flügels der sozialistischen Bewegung (II. Internationale) in Stockholm teilnehmen sollten. Die Mehrheit der Anwesenden war gegen unsere Teilnahme. Die Reden der Bolschewiki waren sehr scharf, aber die heftigsten Angriffe auf die II. Internationale und die entschiedenste Opposition gegen jedweden Kontakt mit Nichtbolschewisten kamen von Trotzki.
Schon bei dieser Gelegenheit bemerkte ich bei ihm eine gewisse Besorgnis, nicht revolutionär genug zu erscheinen. Auch hatte ich den Eindruck, daß Lenin durch sein Benehmen sehr gereizt war, und als ich beim Verlassen der Sitzung mit ihm allein war, fragte ich ihn, immer im Zusammenhang mit meinem Wunsch, seine Psychologie zu ergründen: „Können Sie mir erklären, Wladimir Iljitsch, warum Trotzki nicht Ihrer Partei beitritt und was ihn von euch trennt? Warum veröffentlicht er eine eigene Zeitung? Er scheint doch bolschewistischer als die Bolschewiki…“ Lenin antwortete hitzig: „Wissen Sie es denn nicht? Ehrgeiz, Ehrgeiz und nochmals Ehrgeiz.“ Und in seiner Stimme hörte man seinen ganzen Widerwillen gegen jede Art von Eitelkeit…
Es dauerte nicht lange, bis Lenin selbst nicht nur Trotzkis Aufnahme in die Partei der Bolschewiki befürwortete, sondern ihm auch unbegrenzte Macht gab und ihn mit den verantwortlichsten Ämtern betraute.
Nachdem er sich über die unsagbaren Schwierigkeiten klargeworden war, die Rußland bestehen mußte, um zu überleben, und in der Gewißheit, daß Trotzki jedes Hindernis zu überwinden imstande war, wußte Lenin jedem Unwillen und dem Fraktionshaß Schweigen zu gebieten und zu vergessen, was ihn an Trotzkis Benehmen und Charakter unangenehm berührte. Er verstand es, dessen außergewöhnliche Gaben in den Dienst des Regimes der Bolschewiki zu stellen, wobei er seine Schwächen geschickt auszunutzen verstand.
Die weitere Entwicklung zeigte, wie sehr Lenins Strategie dem Zweck entsprach, den er verfolgte: Abgesehen von seiner Treue zur Sache der Revolution, von seiner Liebe zur Arbeiterrepublik, abgesehen von der wahren Leidenschaft und aufrichtigen Begeisterung, die er für alle Zeichen der Erhebung der enterbten Massen empfand, war Trotzki auch mehr als geschmeichelt von der Ehre, die ihm der allmächtige frühere Feind, Lenin, erwies. Er war der Neubekehrte, der an Eifer und Hingabe alle anderen übertrumpfen wollte, ein Neubekehrter, der sich Verzeihung für seine vielen Verstöße gegen die Bolschewiki verdienen wollte und daher „päpstlicher als der Papst“, unversöhnlicher, revolutionärer, bolschewistischer wurde als die Bolschewiki selbst.
Er vermied sogar den Anschein alles dessen, was ihn zum Menschewiken hätte stempeln können. Trotzdem waren die Bolschewiki ihm nicht weniger feindlich gesinnt als vor seiner Bekehrung. Im Gegenteil…
Die einen fühlten sich erniedrigt, weil sie ihn als „Chef“ dulden mußten, die anderen verdächtigten ihn, sich nicht genügend bekehrt zu haben und ein Ketzer geblieben zu sein. Die Dritten, und sie waren wohl die zahlreichsten, behaupteten, Trotzki habe sich zu den Bolschewiki bekehrt und Lenin zur Verfügung gestellt, weil Lenin und seine Regierung siegreich waren.
Sie hatten unrecht, und ihr Urteil war oberflächlich und zum Teil das Resultat ihrer Voreingenommenheit gegenüber Trotzki. Es ist unzutreffend, daß Trotzki Bolschewik wurde, weil die Bolschewiki triumphiert hatten, wie manche zu verstehen geben wollten. Doch ist es unleugbar, daß dieser Triumph ihn anzog, ihn faszinierte und berauschte. Es ging aber nicht mehr nur um Strategie und abstrakte Theorien, sondern um lebende Menschen, die hoffnungsvoll einer besseren Zukunft entgegensahen und sich sicher waren, daß diese nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern auch greifbar nahe lag. Dank der Magie seiner Rednerkunst sahen die Massen den steinigen Weg, den sie gehen mußten, sich verkürzen.
Sicherlich hätte Trotzki sich auch ganz und gar einer unterliegenden revolutionären Bewegung hingegeben. Aber die Siegesatmosphäre gab ihm mehr Schwung, sie stachelte ihn zu neuen Kämpfen an, bot ihm äußerliche und innerliche Befriedigung und immer neue Gelegenheiten, seine unerschöpfliche Energie zu betätigen; sie eröffnete neue Wirkungskreise für seinen fruchtbaren Unternehmungsgeist. Er war nicht mehr – so dachte er – der verhaßte „gegenrevolutionäre Menschewik“, er war der Held der Revolution, berufen zu siegen und seinen Namen unsterblich zu machen, der mit goldenen Lettern in den Annalen der Geschichte verzeichnet werden würde.
Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Begeisterung der Massen Lenin kalt ließ; die Regungen der Menge, die ihrer Befreiung entgegenging, berührten auch ihn. Auch ihm traten Tränen in die Augen, wenn er die Hymnen der Revolution von zahllosen Männern und Frauen singen hörte, die gestern noch Sklaven gewesen waren: Manchmal mischte er seine Stimme in ihre Chöre, aber auch das tat er auf unpersönliche Weise: Seine Rührung und Begeisterung äußerten sich nicht. Zwar hatte er wesentlich die Ereignisse ausgelöst, die die anderen rührten und begeisterten, aber er wollte nichts weiter sein, als einer unter vielen…
Obwohl er sich mit den Bolschewiki und der Regierung solidarisch erklärt hatte, war Trotzki sich über die Mängel des Regimes und über die Missetaten der Bolschewiki klar. Dieser Mann, der keinem der vielen Hindernisse ausgewichen war, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, der wieder und wieder sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, war unglaublich schwach, wenn es darum ging, der Meinung der Partei oder der Massen zu widersprechen. Für weniger bolschewistisch zu gelten als die anderen, menschewistischer Neigungen verdächtigt zu werden: Davor hatte er Angst.
Zu einer Zeit, als ich dachte – und ich täuschte mich vielleicht nicht –, man könnte die Haltung der Regierung und der Partei noch beeinflussen, ging ich manchmal zu Trotzki, um ihn auf diese oder jene mit sozialistischen Grundsätzen nicht vereinbare Handlungsweise aufmerksam zu machen. Er gab mir immer recht, aber gleichzeitig bekannte er seine Unfähigkeit, an der Situation etwas zu ändern: „Was soll ich tun, liebe Genossin Angelica? Sie wissen, wie sehr ich gegen diese nichtswürdigen Methoden bin.“
Hätte Trotzki, der damals im Zenit seiner Macht stand, die Einsicht und den Mut gehabt, von seinen bolschewistischen Kollegen dort, wo sie Methoden anwendeten, die er verabscheute, abzurücken, wären der jungen Republik und Trotzki selbst viele, nicht nur moralische Niederlagen erspart geblieben. Ehe man ihn ermordete, wurde er mit Schmutz beworfen und der beschämendsten Machtlosigkeit ausgesetzt: Es war ihm die Möglichkeit genommen, seine Ehre als Revolutionär zu verteidigen…
Genau wie Lenins Verhalten stellte mir auch Trotzkis Benehmen, wenn auch aus anderen Gründen, psychologische Fragen, die mich veranlaßten, ihn etwas näher zu beobachten. Ist es möglich, daß ein Mann von seinem intellektuellen Format, mit einer so gründlichen und umfassenden Bildung, mit der Erfahrung, die er aus seinem eigenen Leben und aus allem, was er gelernt, gelesen, untersucht hat, hätte schöpfen müssen – ist es möglich, daß ein solcher Mensch so flüchtige und unbedeutende Dinge wie den Ruhm, die Beifallsbezeugungen und die äußerlichen Auszeichnungen ernstnimmt? Wie kann ein solcher Mann seiner selbst so sicher sein, so durchdrungen von seiner Überlegenheit und von der Unzerstörbarkeit seines Einflusses und seiner Autorität?
Diese Frage drängte sich mir mehr denn je bei unserer letzten Begegnung auf, angesichts der wegwerfenden und überheblichen Art, mit der er von den italienischen Sozialisten sprach und wie er mich beurteilte, weil ich auf meine Position als kleine Verfechterin einer großen Sache nach Italien zurückkehren wollte. „Bitte, setzen Sie sich, liebe Genossin Angelica“, sagte Trotzki zu mir, als er mich in seiner makellosen Uniform empfing, bevor ich Rußland verließ. Ich war zu ihm gekommen, um ihm von einem der üblichen jammervollen Fälle zu sprechen: Es handelte sich um ein wenige Monate altes Waisenkind, das ich ins Ausland zu Verwandten der verstorbenen Mutter bringen wollte.
Als wir mit diesem Thema fertig waren, sagte Trotzki in einem Ton, der absichtlich aufreizend und beleidigend sein sollte, in seiner selbstsicheren, überlegenen Art: „Gestern abend habe ich Ihren italienischen Genossen, diesen Lumpen, eine richtige Lektion erteilt. Ich habe in einer völlig überfüllten Arbeiterversammlung eine Resolution zur Abstimmung gebracht, in der das Verhalten der Sozialistischen Partei Italiens streng getadelt wird.“
„Das ist doch die reine Demagogie“, fiel ich ihm ins Wort. „Wie sollen die russischen Arbeiter, die sich noch nicht einmal in ihren eigenen Angelegenheiten auskennen, eine Vorstellung von dem haben, was in Italien vorgeht? Sie haben Ihre Resolution angenommen, weil sie von Ihnen vorgeschlagen war. Wahrscheinlich hätten sie genauso eine andere angenommen, die ich vorgeschlagen hätte.“
Herablassend sagte Trotzki: „Sehen Sie, so sollte man Ihre Genossen behandeln.“ Und indem er das sagte, öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und holte einen Revolver heraus, den er auf den Tisch legte.
„Wenn das Ihre Sprache ist, kann man Ihnen nicht anders antworten als so!“ sagte ich und zeigte auf meinen Schirm.
Ein Telefonanruf unterbrach die Unterhaltung. „Entschuldigen Sie, liebe Genossin, ich bin sofort wieder da.“
„Sie brauchen mich nicht so zu nennen; wir sind keine Genossen, wenn Demagogie und Gewalt Ihre Waffen sind. Und ich bin sicherlich nicht ›lieb‹ – angesichts der Art, wie Sie meine Genossen behandeln, mit denen ich voll und ganz solidarisch bin.“
„Ist es wahr“, fragte er mich, als das Telefongespräch beendet war, „daß Sie Rußland verlassen? Sie, die Sie solche Gaben haben und einen solchen Einfluß auf die Massen, verlassen das Land der Revolution? Warum tun Sie das?“
„Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen werden, ich will versuchen, es Ihnen zu erklären“, sagte ich nicht ohne Spott.
„Ich werde mein möglichstes tun“, antwortete Trotzki mit einem ironischen Lächeln.
„Sehen Sie, Lew Dawidowitsch, ich stehe auf der Schneide eines Messers, noch ein kleiner Stoß, und ich werde zur Demagogin. Ich kann heute nicht mehr sprechen, wie ich zu sprechen pflegte, ehe die Regierung die Neue Ökonomische Politik einführte. Es hat sich vieles geändert, und da ich die Wahrheit nicht sagen kann, ziehe ich es vor, zu gehen. Ich habe in meinem Leben Tausende von Reden gehalten, ich werde mich mehr als einmal geirrt haben, aber niemals habe ich ein Wort ausgesprochen, das nicht voll und ganz meiner innersten Überzeugung entsprach…“
„Wenn man den Zweck will“, entgegnete Trotzki, „muß man auch die Mittel wollen…“
Ich unterbrach ihn: „Was würden Sie sagen, wenn Sinowjew Ihr Heer mit seinen demagogischen Methoden besudelte?“
„Wenn Sinowjew ein geschickter Agitator ist, warum nicht?“
Während ich mich zum Gehen wandte, hielt er mich mit einer freundschaftlichen Geste zurück: „Überlegen Sie es sich noch einmal, Genossin, verlassen Sie Rußland nicht. Die Regierung ist bereit, Sie mit jeder Arbeit zu betrauen, die Sie wünschen. Wollen Sie das Amt des Kommissars für Propaganda übernehmen, nicht nur für Rußland, sondern für ganz Europa?“
Ich wußte, was das zu bedeuten hatte: Titel, Büro, Sekretärin, Auto, aber keinerlei Freiheit, keine eigene Initiative: Der „Apparat“ hätte für alles gesorgt. So antwortete ich nur mit einem Kopfschütteln und ging wieder zur Türe.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte Trotzki, indem er mich nochmals zurückhielt. „Wir sind im Begriff, eine Universität für Offiziere aller Länder zu gründen. Sie sollen die Leitung übernehmen; denken Sie, welch ein weiter Wirkungskreis sich Ihnen da bietet!“
„Es ist unnütz, daß Sie mir zureden.“
„Denken Sie noch einmal darüber nach, ich bitte Sie. Morgen nachmittag um 4 Uhr schicke ich Ihnen meinen Adjutanten: Er wird Ihnen unser Projekt genauer erläutern.“
Mit der Pünktlichkeit, die Trotzki von sich selbst wie auch von seinen Mitarbeitern verlangte, stellte sich der Adjutant bei mir ein. Er entledigte sich des Auftrages, den er von seinem Vorgesetzten erhalten hatte, mit dem größten Eifer: Er sagte mir sogar, wieviel Papier mir für meine eventuellen Veröffentlichungen zur Verfügung stünde. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und verabschiedete ihn alsbald: „Ich danke Ihnen. Die Antwort werde ich Lew Dawidowitsch geben, der versprochen hat, mich anzurufen.“
In der Tat, Schlag 4 Uhr 30 war Trotzki am Telefon: „Es ist Ihnen also lieber, daß das königliche italienische Heer mit Serrati an der Spitze unser Land überfällt? Italien und Ihre italienischen Genossen ziehen Sie vor? Sie ziehen die bürgerlichen Länder vor…?“
Wir sahen einander nie wieder, wir wechselten jedoch einige Briefe. Als Trotzki erniedrigt, verleumdet, entehrt und verhöhnt von denen, die seine Mitarbeiter, Bewunderer, Jünger gewesen waren, Rußland verlassen und nach Mexiko flüchten mußte, während gegen ihn eine schändliche Kampagne vorbereitet wurde, drückte ich ihm meine Solidarität aus.
„Ihr Protest nimmt mich nicht wunder“, schrieb er mir. „Ich wußte, daß Sie auf unserer Seite sind, gegen diese Bande von…“
„Sicherlich stehe ich auf Ihrer Seite und gegen ›diese‹“, antwortete ich ihm, „aber ich will Sie daran erinnern, daß die gleichen, schmachvollen Mittel, die man heute gegen Sie anwendet, mit Ihrem Einverständnis seinerzeit gegen Serrati und andere Revolutionäre gebraucht wurden, deren Aufrichtigkeit, Ehrenhaftigkeit und Treue zum Sozialismus Ihnen wohl bekannt war.“
„Das waren andere Zeiten, andere Verhältnisse“, entgegnete Trotzki. „Im übrigen, liebe Genossin Angelica, lassen wir das Vergangene vergangen sein; es könnte unsere freundschaftlichen Beziehungen trüben.“
Das war der letzte Brief, die letzten Worte, die wir wechselten.
Da man leider die Menschen nicht so sehr nach ihren ausschlaggebenden Tugenden und Fehler zu beurteilen pflegt, sondern mehr nach den Eigenschaften, die den Umgang mit ihnen mehr oder weniger angenehm gestalten, ist das Urteil über Trotzki häufig einseitig und ungerecht. So wissen z. B. wenige, welche Entbehrungen er sich auferlegte. Angesichts seiner Position hätten er und seine Familie in weit besseren Verhältnissen leben können, wenn er sich und den Seinen einige Privilegien gegönnt hätte.
Auch diejenigen, die sich an ihn mit Bitten und Empfehlungen wandten, beurteilten ihn häufig falsch. Selbst wenn er die Berechtigung und die Dringlichkeit ihrer Gesuche einsah, konnte er ihnen nicht helfen. Aber durch seine überlegene Art und sein militärisches Auftreten, das er auch in seinen persönlichen Beziehungen beibehielt, konnte bei denen, die sich an ihn wandten, der Gedanke gar nicht aufkommen, daß er nicht die Möglichkeit habe, ihre Bitten zu erfüllen.
Eines Tages kam eine Frau zu mir, die Trotzki beherbergt hatte, als er unter dem Zaren von der Polizei gesucht wurde. Jetzt kam sie, um seine Hilfe zu erflehen: Ihre Apotheke, die die einzige Einkommensquelle ihrer Familie war, sollte enteignet werden. Ich wußte, daß Trotzki nichts für diese Frau tun konnte, da es sich um die Ausführung einer Verordnung der Regierung handelte. Keinem von uns, die wir gegen die Protektionswirtschaft unter den Zaren so erbittert gekämpft hatten, konnte es in den Sinn kommen, eine Ausnahme zu befürworten, unseren Einfluß oder unsere Macht zur Geltung zu bringen.
Da ich aus eigener, schmerzlicher Erfahrung wußte, wie schwer es fällt, Nein zu sagen, wenn man eigentlich alles nur Mögliche tun möchte, um ein hartes Los zu mildern, wollte ich Trotzki diese Qual ersparen, und ging selbst zu ihm, statt die Frau zu ihm zu schicken. Er konnte nur bestätigen, was ich mir schon gedacht hatte: Es war ihm durchaus nicht möglich, für die Frau einzutreten. „Denken Sie sich“, sagte er, „seit zwei Jahren will mein Vater mich besuchen, aber er hat keine Schuhe, und ich kann ihm keine verschaffen. Wie soll ich um Schuhe für meinen Vater bitten, wo es bei uns so viele Menschen gibt, die keine haben?“
Sich selbst behandelte er nicht anders. Obwohl magenleidend, ernährte er sich sehr schlecht: Die Anstrengungen und die ununterbrochene Nervenanspannung, die sein Amt mit sich brachte, hat er nur aushalten können, weil er auf seinen Reisen die Mahlzeiten in den Offiziersmessen des Generalstabs einnahm. Die Einhaltung aller bolschewistischen Vorschriften war für ihn eine Frage des Prinzips, Ehrensache. Er war der erste, der die Disziplin einhielt, die er von anderen verlangte. Niemals durfte der geringste Widerspruch zwischen seiner Eigenschaft als Führer einer revolutionären Armee und seinem Privatleben bestehen. In den schwierigsten, gefährlichsten Situationen, wenn der Feind in unmittelbarer Nähe war, marschierte Trotzki an der Spitze seiner Truppen, selbst wenn man ihm riet, im Interesse der Republik sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen.
Im Oktober 1919 hatte der Krieg zwischen dem roten und dem weißen Rußland seinen Höhepunkt erreicht: Der Sieg schien dem weißen zu gehören. Unter der Führung des Generals Kornilow standen wohlgenährte und gut ausgerüstete Soldaten vor den Toren Petrograds. Die Verteidiger, unterernährte, entmutigte, disziplinlose Soldaten mit schlechter Kleidung und schlechten Schuhen, konnten – so glaubten alle – dem Feind keinen Widerstand leisten. Alles stand im Zeichen der unvermeidlichen Niederlage.
Lenin, der klarer als die anderen sah, daß der Verlust der roten Hauptstadt eine nie wieder gutzumachende Katastrophe bedeuten würde, verlangte von Trotzki, was kein Regierungsoberhaupt unter solchen Umständen vom Heerführer einer Armee hätte verlangen können, die dem Ansturm eines übermächtigen Feindes standzuhalten hatte: „Petrograd muß gerettet werden, muß bis zum letzten Tropfen Blutes verteidigt werden, wenn notwendig Straße für Straße, Haus für Haus…“ Und das zu einer Zeit, als es in Sibirien und im Osten Rußlands galt, gegen Koltschaks erstklassige Armee zu kämpfen, und Denikin in Zentralrußland stand…
Trotzki stürzte sich, wie immer, mit Leib und Seele in die Aufgabe, die Truppen neu zu ordnen und anzufeuern, die ihm für die Verteidigung von Petrograd zur Verfügung standen: Mobilmachung und immer wieder Mobilmachung! Zu diesem Zweck wurde in Moskau eine Versammlung junger Kommunisten einberufen. Trotzki, Alexandra Kollontai und ich sollten sprechen.
Seit die Lage vor Petrograd sich verschlechtert hatte und das letzte Aufgebot zur Niederlage verurteilt schien, hatte Trotzki beschlossen, den Truppen voranzugehen und sie selbst zu diesem Duell mit so ungleichen Waffen zu führen. Er erwähnte jedoch seinen Entschluß mit keinem Wort: An jenem Abend wurde der Tod nicht erwähnt, doch hatten ihn alle vor Augen, so wirksam war die Tragik von Trotzkis Worten, so überwältigend die Atmosphäre, die er mit seiner hinreißenden Rednerkunst zu schaffen verstanden hatte.
An jenem Abend skandierte er nicht: Seine Worte hatten einen feierlichen Rhythmus, ohne die geringste Affektiertheit, ohne Emphase. Ich hatte das Gefühl, daß, wäre in dem Augenblick der Tod selbst in den großen Saal getreten, um seine Opfer auszuwählen, es einen Wettstreit gegeben hätte unter den zahllosen Zuhörern: Jeder hätte sich opfern wollen, jeder der erste sein, um nicht in der Reihe derer zu fehlen, mit deren Leichen der Pfad zum Triumph der Freiheit, zum Sieg des Sozialismus besät war. So wie an jenem Abend habe ich Trotzki niemals gesehen und gehört, weder vorher noch nachher.
Ehe der Lauf der Dinge Lenin zur Einsicht gebracht hatte, daß Trotzki der geeignete Mann – ja der einzige – war, der in der Lage war, Rußland in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen, hatte er ihn mit unverhohlener Feindseligkeit behandelt. Als er aber zu der Auffassung gelangt war, Trotzki zum Nutzen des bolschewistischen Vaterlandes einsetzen zu können, übergab Lenin ihm das höchste Amt und änderte seine Haltung ihm gegenüber nicht nur äußerlich und politisch, sondern auch innerlich. Zu jener Zeit war Trotzki für ihn der unersetzliche, der unvergleichliche Bolschewik mit vielseitiger Begabung und unermüdlicher Tatkraft, von unerschütterlicher Treue zur Sache der Revolution.
Als aber, anläßlich einer Meinungsverschiedenheit über ein Gewerkschaftsproblem, Trotzkis Gegner, von Stalin und Sinowjew angeführt, die ihm sein Ansehen und seinen Ruhm neideten, einen heftigen Lügenfeldzug gegen ihn inszenierten, seine frühere antibolschewistische Haltung in Erinnerung brachten und ihn als Opportunisten, als den Verbündeten des internationalen Bürgertums, als einen gefährlichen Menschewiken beschimpften, ließ Lenin sie gewähren…
Warum hat Lenin der schändlichen Verleumdung eines Mannes, dessen Verdienste er besser als irgendein anderer kannte und zu schätzen wußte, kein Ende gemacht? Er fürchtete, daß Trotzki, nachdem im Lande mehr oder weniger normale Zustände wiederhergestellt waren, vom „orthodoxen Bolschewismus“ abrücken könnte. Das Ansehen, das er sich erworben hatte und seine hervorragenden Eigenschaften, sein Name und sein vermehrter Einfluß hätten dann – so fürchtete Lenin –, eine Infiltration des „menschewistischen Giftes“ begünstigen können.
Leider ließ Trotzki sich in seiner Verteidigung gegen die schmachvollen Angriffe auf das Niveau seiner Gegner herab. Statt die Herausforderung anzunehmen und Prinzipien und Systeme zu klären, hatte er nur eine einzige Sorge: zu beweisen, daß er Bolschewik war.
Das wurde ihm zum Verhängnis und hat seinen Namen des revolutionären Glorienscheins und ihn der Dankbarkeit beraubt, die er verdient hätte.
Kurz vor seinem Lebensende änderte Lenin seine Meinung über Trotzki abermals. Seine Sorgen über die Zeit nach seinem Tod hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, daß Trotzki, trotz seiner Abweichungen, der einzige sei, der sein Werk würde weiterführen können. Doch es war zu spät: Die Lähmung hatte Lenin jeglicher Hoffnung beraubt, auf Ereignisse und Menschen noch Einfluß nehmen zu können, während Trotzki in einem Meer aus Demagogie und Schande ertrank.
Kapitel entnommen aus: Angelica Balabanoff: LENIN oder: Der Zweck heiligt die Mittel, Karl Dietz Verlag, Berlin 2013, 192 Seiten, 22,00 Euro
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Angelica Balabanoff, Karl Dietz Verlag, Lenin, Trotzki