16. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2013

Querbeet (XX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zum Querbeet-Zwanzig-Jubiläum und als Ur-Dresdner ausnahmsweise nur Sachen aus der oberelbischen Sandstein-Metropole.

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Es war einmal ein kleines Land. Dort hieß es: Von nun an sei alles anders. Gerechtigkeit würde herrschen, Nächstenliebe, der neue Mensch. In Wirklichkeit aber war alles wie immer; der alte Adam blieb sich treu. So steht es in Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ aus dem Jahr des Mauerbaus, der in der DDR nie gedruckt worden wäre ohne das hinreißende Mädchen Rita mit seinem Glauben an die Verkündigung der Neuzeit mit ihren neuen Menschen. Tapfer hält sie ihr rotes Fähnlein aufrecht. Und lässt die große Liebe ihres jungen Lebens zu Manfred im Stich. Der hat längst, schwer enttäuscht, die Fahne eingerollt, ist rüber nach Drüben. Trotz flehentlicher Bitten: Rita blieb. „Einmal muss man ans Unmögliche glauben!“ Das orthodoxe Prinzip Hoffnung im literarisch-sozialistischen Realismus.
Mit gleichermaßen starker wie nüchterner Empathie für eine himmelstürmende Vergeblichkeit inszenierte in Dresden Tilmann Köhler – Jahrgang 1979, also 50 Jahre jünger als Christa Wolf – deren bittersüße Geschichte einer himmlischen Zuneigung, die an damals weit verbreiteter Prinzipienreiterei zerbricht.
Auf leerem Podest demonstriert ein wunderbar spielerisches Ensemble in teils kabarettistischer Überhöhung den grauenvollen DDR-Alltag in VEB-Buden, SED-Büros und Kleinbürgerhöllen, der Manfred (sarkastisch verzweifelt: Matthias Reichwald) von Rita (Lea Ruckpaul) fort und außer Landes treibt, derweil sein heiliger Engel des Sozialismus sich beflügelt am Hochhalten ihrer weltverbesserischen Ideale. Je mehr sie sich darin verkrampft, umso steiler kippt das Spielpodest himmelwärts, bis es kaum noch Halt gibt. Freilich, das comic-hafte, auch fein plakative Skizzieren der realsozialistisch üblen Zustände, die überhaupt antipsychologische Spielweise offenbart kühl das tragödische Konstrukt des Romans und geht zu Lasten der Einfühlung ins Liebensleben des schwierigen Paars. Wirft aber ein etwas anderes Licht auf Christa Wolf: „Der geteilte Himmel“ nicht als sentimentales Rührstück mit Durchhalteparole (der sich die Autorin selbst lebenslang qualvoll aussetzte). Und nicht nur als Warnbild vor dem zerstörerischen Stalinismus, sondern als frühe, tieftraurige Grablegung einer schönen Idee. – Ein verständnisvoll kopfschüttelnder Blick der ums Verstehen ringenden Enkel auf die bis ins Heute wehenden Schmerzen der Altvorderen.
Dieser Blick, Köhlers „Zurücktasten ins Dunkel“, passt genau in die Programmatik des Intendanten Wilfried Schulz, der 2009 antrat, mit überraschender Vielfalt arg eingefahrene Publikumserwartungen aufzubrechen. Und dieser agile kleine Herr, Anfang 60, mit randloser Brille vor diabolisch blitzenden Augen, schaffte es auf Anhieb – obwohl Randberliner, „ausm Westn“ und kein Sächsisch könnend –, die so kunstsinnigen wie altmodischen, Neuem eher skeptisch zugetanen Herzen der Dresdner mit ihrer so heiligen Lust am barocken Schwelgen zu erobern.
Beispielsweise mit Regisseur Roger Vontobel und Shakespeares „Hamlet“. Da tobt ein irrlichterndes Milchgesicht über die Bühne, den Dickschädel zum Platzen voll mit so dunklen wie leuchtenden Gedanken. Ein unklarer Spund, wie Jugend unklar ist. Und aus den Fugen wie die Welt von Hamlet. – Noch nie sahen wir den alten braven Knaben als derart rasende Nervensäge, wie sie der sagenhafte Christian Friedel macht. Ein unter Starkstrom stehender Youngster, der verbissen an das Beste glaubt, daran verzweifelt und mit seinem Rambo-Ego allen auf den Geist geht. Aber wahnsinnig tolle Lieder schreibt. Und verführerisch röhren kann als Frontmann seiner Band „Woods Of Birnam“. Der Coup der Regie ist, Hamlet aus der ideologischen Glanzverpackung als netten Träumer zu reißen und – die Schlegelsche Übersetzung stützt das frappierend! – als schwer gestörten Testosteronbatzen in die schwer gestörte Welt zu werfen. Dort grassiert nicht nur das Böse, aber ein dogmatischer Fanatiker und Idealist muss in ihr zugrunde gehen – Hamlets Tragödie; todernst und doch unvergrübelt, swinging.
Daneben glänzt Brechts kapitalismuskritische, als Moritaten-Show „kulinarisch“ frisierte „Dreigroschenoper“, von Regisseurin Friederike Heller durchtrieben verfremdet mit modisch Gegenwärtigem: Als grell schillernde Trash-Travestie-und-Pop-Oper. Eine raffiniert funkelnde V-Effekt-Orgie. Doch im Glamour schimmert der Aberwitz des unentwegt regierenden Kapitalismus. Solch neuartige Sichten auf alte Sachen passen prima ins Schulz-Konzept, „ästhetische Deutungshoheiten aufzubrechen“. Und passen obendrein zur Säkularfeier des „ersten bürgerlichen Hoftheaters“ in Deutschland. Die Dresdner haben gesammelt, der König ließ bauen, 1913 war Einweihung. Es folgten goldene, dann braune Zeiten (Dresdner Theater, gern verdrängt, als Deutschlands erste Nazi-Zentren). Und dann die roten, wo man, zur Zeit des „Geteilten Himmels“, begann, Widerstand zwischen der Dichter Zeilen zu schmuggeln. Bis hin in die mutige, die große Zeit der Wende, Herbst 1989: „Wir treten aus unseren Rollen heraus!“. Wilfried Schulz fing also nicht bei null an.

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„In den Ruinen tote Russen, oft halb verwest.“ – „Viele Faschistenschweine vernichtet. Witja und ich geben es ihnen.“ Zwei Feldpostbriefe aus Stalingrad, November 1942. Am 23. Dezember scheiterte der letzte Versuch der Deutschen, aus dem Kessel auszubrechen. Heiligabend gab’s noch Mettwurst, Streuselkuchen, Schnaps, Kaffee, Tabak. Danach nur noch 25 Gramm Brot am Tag. Und draußen zwanzig Grad Frost. Kapitulations-Angebote der Sowjets wurden ausgeschlagen. Dabei war Stalingrad gar keine Entscheidungsschlacht, avancierte aber, noch während sie geschlagen wurde – ein Novum! –, zum weltweiten Medienereignis. Und schließlich zum Mythos. Wer Stalingrad sagt, meint beispiellosen Triumph oder völlige Vernichtung. So ist das bis heute. Auch davon erzählt eine erschütternde Ausstellung im Militärhistorischen Museum Dresden. Vor allem aber wird erzählt, wie die Soldaten beider Seiten und wie die Zivilbevölkerung das Schlachten erlebt haben. Das ist nicht bloß pädagogisch wertvoll, sondern herzergreifend, niederschmetternd. Die Ausstellungsstücke (gebastelte Ringe für die Liebe daheim oder – makaber! – ein erfrorener, amputierter, konservierter deutscher Fuß) entstammen deutschen Archiven, vor allem aber, was sonderlich berührt, Kriegsmuseen in Moskau, Sankt Petersburg, Wolgograd. In einer Vitrine ein „gerettetes“ künstliches Weihnachtsbäumchen, das der Moral aufhelfen sollte. Wurde 1942 auf Görings Befehl tausendfach eingeflogen. Als Durchhaltegrün, Propagandastrunk – aber eben doch als Gruß für ein paar Stunden stille, heilige Nacht.
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Nach dem Ausflug ins Grauen der Väter und Vorväter, das in dieser noch immer demolierten Stadt sehr gegenwärtig ist; allem alt-neuen Glanz zum Trotz, stehe ich im prunkvoll illuminierten Schauspielhaus. Im Hirn das Bild vom Dresdner Ruinenfeld 1945, vor Augen das ikonografische Foto zur Jahrhundertfeier: Die Fassade des zerbombten, doch schon drei Jahre später wieder eröffneten Schauspielhaues, jetzt von grellbunten Leuchtfeuerkaskaden pompös umfackelt. – Theater nicht nur als Erinnerung, Kritik, Widerstand, Aufklärung, Provokation, sondern Theater auch als Fest. Barock! Und wohl kein Blick aus Deutschlands Theatern nach draußen ist fantastischer als – von der Semperoper abgesehen – der aus den Foyer-Fenstern gegenüber von Zwinger-Kronentor, Residenzschloss, Sixtinischer Madonna.

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Dass man ausgerechnet in dieser elysischen Atmosphäre den in Deutschland unbeliebtesten Dialekt spricht, ficht Sachsen überhaupt nicht an. Denn der Sachse blickt weit zurück: Zu Luthers Zeiten war Sächsisch das wahre Hochdeutsch. Der Dresdner Schauspielstar Tom Pauls, anerkannter Oberpfleger und via MDR-TV erster Propagandist des Sächsischen, der weiß: „Dieser Dialekt ist Weltanschauung!“ Der Sachse habe einen „sehr speziellen Blick“ aufs Dasein. Sein Kernsatz: Es könnte noch viel schlimmer kommen. „Die Sachsen können nämlich reichlich leiden und zugleich äußerst fischelant sein, was pfiffig bedeutet. Sie machen aus allem das Beste, irgendwie.“ Sie erfanden den Kaffeefilter (Melitta), das Mundwasser (Odol), einen speziellen Quarkkuchen (Eierschecke) und waren – leider vor hundert Jahren – die größten Socken-Produzenten der Welt (Chemnitz). Aber sie „branzen“ (protzen) nicht; verstehen sie sich doch von alters her als fleißige Kulturträger der Menschheit und machen gern in vornehmer Zurückhaltung. Findet man etwas gut, heißt es „kannste machen“. Ist etwas sehr gut, sagt man „ni schlecht“; ist es ausgezeichnet ‑ „war mal was Andres“. Bleibt aber die Spucke weg, murmelt es „bomforzionös“. Stammt aus der Napoleon-Zeit. Eine Abwandlung von „bonne force“ – bis zum nächsten Querbeet.