von Jonna Schürkes
Es zeichnet sich das Ende der ISAF ab. Die Mission, die seit elf Jahren Krieg in Afghanistan führt, soll bis Dezember 2014 beendet werden, viele ISAF-Truppensteller bereiten den Rücktransport von Material vor und haben die Anzahl der entsendeten Soldaten bereits reduziert. Ende November 2012 legte die Bundesregierung einen Entwurf für das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr bis Februar 2014 vor. Die Mandatsobergrenze wird darin auf 4.400 Soldaten festgelegt, also im Vergleich zum letzten Mandat um 500 Soldaten reduziert. Damit fällt die Truppenreduzierung kaum höher aus als bei der letzten Verlängerung (von 5.350 auf 4.900 Soldaten), und weitaus geringer, als derzeit suggeriert wird: Die 3.300 Soldaten, die der Sprecher der Bundesregierung in einer Regierungspressekonferenz als „Obergrenze“ bezeichnete, sind ein Ziel, das bis zum Ende der Mandatszeit angestrebt wird, „soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden“.
Das Ende der ISAF bedeutet jedoch weder den Rückzug der NATO aus Afghanistan und noch viel weniger das Ende des Krieges in Afghanistan. Längst wird an einer neuen Mission gebastelt: Aus der „Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe“ (International Security Assistance Force – ISAF) soll eine Mission zur „Ausbildung, Beratung und Unterstützung“ werden. Ein Name steht noch nicht fest, und auch der Umfang der Mission ist noch unklar. Die Anzahl der benötigten Truppen wird sehr unterschiedlich angegeben. In einer Studie von Ende September sprach der BND von bis zu 35.000 ausländischen Soldaten, die weit über 2014 in Afghanistan stationiert bleiben müssten. Für die USA empfahl der derzeitige Oberkommandierende der ISAF-Truppen, John Allen, eine US-Truppe von 6.000 bis 15.000 Soldaten.
Weitgehend bekannt ist hingegen die Aufgabe der kommenden Mission und damit auch die Art der Einheiten, die in Afghanistan bleiben werden. Anders als die Bundesregierung gerne behauptet, werden auch nach 2014 noch Kampftruppen in Afghanistan stationiert sein. Es soll zwar ein Schwerpunkt auf der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Security Forces – ANSF) liegen, doch zu ihrem „Schutz“ sollen auch Kampftruppen entsandt werden. Zudem werden Spezialeinheiten zusätzlich eine Truppe zur Bekämpfung des Terrorismus (Counterterrorism Force) bilden, die auch über 2014 hinaus Jagd auf Aufständische machen wird. Auch weiterhin wird die Terroristenjagd von Drohnen unterstützt. Diese Art der Kriegsführung könnte noch ausgeweitet werden, hat Großbritannien doch erst kürzlich seine Drohnenflotte in Afghanistan verdoppelt und auch die USA gedenken, zukünftig den Einsatz von Drohnen zu verstärken.
Langfristig allerdings sollen Spezialeinheiten der afghanischen Polizei und des Militärs die Jagd auf „Terroristen“ übernehmen. Im Juli 2012 wurde das Oberkommando „Special Operations Joint Task Force – Afghanistan“ (SOJTF-A) gebildet, unter dem alle Spezialeinheiten der NATO-Staaten und alle polizeilichen und militärischen Spezialeinheiten Afghanistans zusammengefasst werden sollen. Das Kommando hat ein US-amerikanischer General inne. Ziel sind zum einen der verbesserte Informationsaustausch sowie gemeinsame Einsätze zwischen den NATO-Spezialeinheiten, zum anderen sollen die afghanischen Spezialeinheiten besser gesteuert werden können und gegen diejenigen Personen und Gruppen vorgehen, die der Westen als Terroristen identifiziert hat. Die Aufstellung des Kommandos ist als Vorbereitung auf die Nachfolgemission der ISAF zu sehen, in der Spezialeinheiten eine hervorragende Rolle spielen sollen.
Besonders die – von der NATO immer noch als sinnvoll und notwendig bezeichneten – „night raids“ sollen von den Afghanen übernommen werden. Diese nächtlichen Hausdurchsuchungen sind für die Bevölkerung besonders traumatisierend, da sie „in vielen Fällen die exzessive Gewaltanwendung, die Zerstörung und/oder den Diebstahl von Eigentum und die Misshandlung von Frauen und Kindern“ bedeuten. Auch sind so genannte „Kollateralschäden“ bei dieser Art der Jagd auf Terroristen enorm hoch: Für jede gesuchte Person, so erklärte 2010 US-General Petraeus und zu dem Zeitpunkt noch Oberkommandierender der ISAF, die getötet oder gefangen genommen wird, werden drei Menschen, die nicht Ziel der Angriffe sind, getötet und vier weitere festgenommen. Da dieses nächtliche Eindringen in die Häuser neben dem Einsatz von Drohnen wohl die Versinnbildlichung der Besatzung durch die ISAF-Truppen ist, wird dies immer mehr von den afghanischen Einheiten übernommen, die allerdings von ISAF-Truppen dabei begleitet werden.
Was für die Spezialeinheiten gilt, gilt im gewissen Maße auch für die anderen Einheiten der ANSF: Die afghanischen Soldaten und Polizisten werden häufig von westlichen Soldaten in den Kampfeinsatz begleitet. Dieses „Partnering“-Konzept gilt in der NATO als grundsätzlich erfolgreich. In den letzten Monaten allerdings gab es immer weniger gemeinsame Einsätze von afghanischen und ISAF-Kräften. Diese wurden reduziert, da die Fälle, in denen ISAF-Soldaten von afghanischen Polizisten oder Soldaten getötet oder verletzt wurden, in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben: Bis Oktober diesen Jahres waren es mindestens 57 Tote, im Zeitraum 2003-2011 waren es insgesamt 67. Während über diese so genannten „Green-on-Blue“-Vorfälle relativ viele Informationen zu erhalten sind, wird die Zahl derjenigen afghanischen Sicherheitskräfte, die von Leuten „aus den eigenen Reihen“ getötet wurden (Green-on-Green) nicht veröffentlicht. Es steht allerdings fest, dass die Zahl höher ist, als die der Green-on-Blue Vorfälle. Diese Angriffe „aus den eigenen Reihen“ sind weniger auf eine erfolgreiche Infiltrierung der ANSF durch die Taliban zurückzuführen. Die International Crisis Group geht vielmehr davon aus, dass diese Angriffe die Folge von Machtkämpfen innerhalb der Sicherheitskräfte sind und zitiert einen ehemaligen afghanischen Offizier: „Es gibt in Afghanistan keine nationale Armee. Es gibt keine nationale Polizei. Eine fraktionierte Regierung kann nur eine zerstrittene Armee und Polizei hervorbringen. Es ist keine Frage der Balance zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen; es ist eine Frage der Balance zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen. Die Menschen in der Armee und der Polizei kämpfen für ihre Gruppen, nicht für das Land.“
Diese Kämpfe innerhalb von Polizei und Militär sind allein aufgrund der schieren Größe des Sicherheitsapparats ein enormes Konfliktpotential, das den Krieg in Afghanistan zukünftig noch weiter anheizen kann. Bis Oktober 2012 wurde vom Westen ein Sicherheitsapparat aufgebaut, der alleine cirka 340.000 Soldaten und Polizisten umfasst. Hinzu kommen noch Angehörige des Geheimdienstes NDS sowie unzählige Milizen, die mit westlichen Waffen und Sold als Hilfspolizisten „Aufständische“ jagen.
Die Tatsache, dass auch zukünftig ein großer Teil der Finanzhilfen aus dem Ausland in den „Sicherheitsbereich“ fließen wird, macht Konflikte innerhalb der ANSF noch wahrscheinlicher. Die jährlichen Kosten der ANSF werden mit 4,1 Milliarden US-Dollar beziffert, wovon die USA 2,3 Milliarden, die afghanische Regierung 500 Millionen und Deutschland cirka 200 Millionen Dollar übernehmen werden.
Bis 2014 soll eben jener Sicherheitsapparat für die „Sicherheit“ im Land sorgen. Als Paradebeispiel dafür, wie die Übergabe der Verantwortung aussieht, kann die Übertragung der Verantwortlichkeit für das Gefängnis auf der US-Basis Bagram gesehen werden. Im September 2012 übergab das US-Militär das Gefängnis und die Gefangenen an die afghanische Regierung. Das Gefängnis diente den USA seit 2002 als Gefangenenlager für „feindliche Kämpfer“, die in Afghanistan festgenommen worden waren und als Durchgangslager und Verhörstation für „Terrorverdächtige“, die von den unterschiedlichsten Orten dieser Welt nach Bagram gebracht worden waren. Die Haftbedingungen sollen verheerend sein, immer wieder wurde von Folter berichtet, bis heute wurde lediglich dem Roten Kreuz, das zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, Zugang zu einigen Teilen des Gefängnisses gewährt. Auch wenn das Gefängnis von den USA geführt wurde, waren die anderen NATO-Staaten nicht unbeteiligt. Es ist davon auszugehen, dass auch Menschen, die mit der Hilfe deutscher Spezialeinheiten gefangen genommen wurden, dorthin kamen und dass deutsche Sicherheitsbehörden Informationen, die in Bagram „gewonnen“ wurden, für die eigene Arbeit nutzen.
Dieses Gefängnis wurde also 2012 mitsamt den darin inhaftierten über 3.000 Menschen der afghanischen Regierung übergeben. Seither sind die Polizei, der Geheimdienst und die Justiz Afghanistans für diese Menschen zuständig, die unter US-Aufsicht ausnahmslos ohne Anklage, geschweige denn Verurteilung seit mehreren Jahren inhaftiert sind. Der afghanischen Polizei und vor allem auch dem Geheimdienst NDS konnte die UN-Mission für Afghanistan nachweisen, dass sie bei Menschen, die sie gefangen genommen haben, regelmäßig Folter anwenden. Zudem ist die afghanische Justiz faktisch inexistent (beziehungsweise so hochgradig korrupt, dass von ihr kaum eine „Rechtssprechung“ zu erwarten ist), es gibt kaum Richter oder Staatsanwälte, die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der Justiz ist sehr schlecht, was unter anderem daran liegt, dass die NATO-Staaten seit Jahren eine Polizei aufbauen, die vor allem zur Bekämpfung von Aufständischen und nicht zur polizeilichen Ermittlungsarbeit eingesetzt und ausgebildet wird.
Die USA übergaben aber nicht alle Bereiche des Gefängnisses an die Afghanen und mehr als 600 Menschen werden immer noch vom US-Militär gefangen gehalten. Grund hierfür sind aber weder die Foltervorwürfe gegenüber der afghanischen Polizei und des Geheimdienstes noch das nicht funktionierende Justizsystem. Die Gefangenen werden vom US-Militär nicht übergeben, da es befürchtet, die afghanische Justiz könnte die Menschen nach afghanischem Recht freisprechen und freilassen. Bei der offiziellen Übergabe des Gefängnisses erklärte ein US-amerikanischer Oberst: „Wir haben Ihnen 3.000 afghanische Gefangene übergeben und sichergestellt, dass diejenigen, die die Zusammenarbeit zwischen den afghanischen Kräften und der Koalition gefährden könnten, nicht auf das Schlachtfeld zurückkehren werden“. Was damit gemeint war, macht ein Angehöriger des US-Militärs klar: „Für die afghanische Regierung geht es um die Souveränität und für General Allen geht es um die Sicherheit der westlichen Truppen. Man kann diese Typen nicht gefangen nehmen und dann wieder laufen lassen“.
IMI-Analyse 2012/026 – übernommen mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Militarisierung e.V. und der Autorin.
Schlagwörter: Afghanistan, Bundeswehr, ISAF, Jonna Schürkes, Krieg, Truppenabzug