von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Nun ist uns Romney also doch erspart geblieben. Darf folglich aufgeatmet werden? Ohne Frage stellen Obama und sein Team in einer Reihe von wichtigen Einzelbereichen (Stichwort Krankenversicherung) das geringere Übel dar. Doch bleibt offen, ob das kleinere Übel sich in der Substanz auch mittel- und langfristig vom größeren Übel Romneys unterscheidet. Schließlich sind am Ende beide Politiker Interessevertreter der herrschenden Klasse und als solche mit dieser symbiotisch verwachsen, was immer ihre eigene Intention auch sei.
Romney und sein Dunstkreis turbo-kapitalistischer Extremisten haben die amerikanische Präsidentschaftswahl verloren. Obgleich die Zeichen für ihre zu erwartende Wahlniederlage in den Wochen und Tagen vor dem 7. November immer deutlicher wurden, kam für die illustre Koalition aus bibeltreuen Eiferern und erzkapitalistischen Demagogen die Nachricht von Obamas Wiederwahl wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Romney und seine Helfershelfer lebten zunehmend nur noch in ihrer eigenen geistigen Parallel-Welt, wo Amerikas zerbröckelnde Infra- und Sozialstruktur in erster Linie durch arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger und andere schmarotzende Trittbrettfahrer aus der Unterschicht verursacht wird, also nicht durch ruinöse, zum Teil völkerrechtswidrige Kriege und den destruktiven Neo-Liberalismus der letzten Jahrzehnte. Höchste Zeit sei es daher nach Auffassung von Romney und seinesgleichen, diesen 47 Prozent der Bevölkerung mal richtig auf’s Hirn zu hauen. Dass so auch die amerikanische Mehrheit denkt, daran hatten die wenigsten Republikaner Zweifel. Sie berauschten sich immer mehr an ihren markigen Sprüchen und nahmen Informationen von außerhalb der eigenen Reihen kaum noch zur Kenntnis. Und dann kam ihre Bruchlandung am Wahlabend, als sie zuerst ungläubig und schließlich entsetzt sahen, wie ihnen ihre Felle davonschwammen.
Wer das am Ende vielleicht recht zweifelhafte Glück hat, mit einigen strammen Romney-Anhängern aus dem konservativen Kernland zu korrespondieren, dem eröffnet sich eine Gruselwelt aus den schlimmsten Tagen des Kalten Krieges. Nicht nur wird der nun wirklich weder linke noch auch nur links-liberale Obama immer wieder als kommunistisch-islamistischer Bösewicht und ganz unamerikanisches Weichei dargestellt, sondern man weiß dort natürlich auch genau, woran unsere Welt vor allem krankt: an Obamas totalitär-staatssozialistischer Regulierungswut. Obama und sein Team nämlich wollen den gutpatriotischen Amerikanern ihre Knarren und anderes schwere Geschütz wegnehmen und nun auch noch ihr gottgegebenes Geburtsrecht auf überdimensionale klebrige Zuckergetränke und traditionelle Energie verschwendende Glühbirnen beschneiden. So liest man es beispielsweise auf der Facebook-Seite von Daniel Peterson, Professor für Islamwissenschaft an der mormonischen Brigham Young University in Utah, Romney-Anhänger und einer der geschäftigsten Apologeten der Mormonenkirche.
Natürlich wird sich Obama über derart verstiegene Urteile nur wundern können, denn das Gesetz für Energie sparende Glühbirnen, der so genannte Energy Independence and Security Act wurde schon 2007, also noch zur Amtszeit von George W. Bush, verabschiedet. Und auch die Idee, die Rezepturen der unter anderem Kinderdiabetes verursachenden Zuckerbomben der Getränkeindustrie etwas vernünftiger zu dosieren, kommt aus der Gesetzesküche eines Konservativen, – des parteilosen milliardenschweren Bürgermeisters von New York City, Michael Bloomberg, der bis kürzlich übrigens Republikaner war. Und obgleich es durchaus wünschenswert wäre, wenn Obama die alljährlich zahllose Todesfälle verursachenden fahrlässigen Waffengesetze drastisch verschärfte, hat er sich erst nach dem jüngsten Massaker in Newtown überhaupt dieser Thematik angenommen. Auf grundlegende Änderungen deutet allerdings bisher nichts hin.
Die erzkonservative Mutter eines Freundes aus Ogden in Utah erwartet nach Obamas Wahlerfolg nun allen Ernstes, demnächst enteignet und in ein Gulag abtransportiert zu werden. Solch bizarre Vorstellungen zirkulieren zunehmend nicht nur unter wirrköpfigen Außenseitern, sondern bohren sich in immer weitere Wählerschichten vor. Ein anderer Bekannter, konservativer Mormone aus Surprise in Arizona, dachte auf seiner Facebook-Seite gar in sloterdijkscher Manier darüber nach, ob man die Demokratie nicht vielleicht abschaffen müsse, um den Kapitalismus zu retten. In einer recht perversen Umkehrung des wirklichen Tatbestandes definierte dieser Romney-Anhänger die Demokratie als Selbstbedienungsladen der Lohnabhängigen, in dem vermaledeiten 47 Prozent der in ihren sozialen Hängematten schaukelnden US-Amerikaner immer größere Sozialgeschenke verlangen und schwer schuftende, auch mit hundert Millionen Dollar Jahresgehalt noch unterbezahlte Leistungsträger in den Chefetagen es kaum noch schaffen, diesen immer dreisteren Forderungen nachzukommen. Diese Unterschicht nun nutze die Mechanismen der Demokratie, um es sich in ihren sozialistischen Wärmestuben gemütlich einzurichten. Daher stimmten diese ach so verantwortungslosen arbeitsscheuen Massen natürlich für Obama, der ihnen immer größere Sozialgeschenke mache. Nur der ehrliche Romney und seine Geldelite verstünden wirklich, dass man sich alles selbst erarbeiten müsse und Sozialleistungen automatisch zu Arbeitnehmer-Faulheit und Staatsbankrott führten. Doch die Mehrheit der Wähler sei halt zu selbstsüchtig, um dies zu erkennen.
Wer also auf der Seite von wirtschaftlicher Vernunft und Kapitalismus stehe, so der Herr aus Arizona, müsse in punkto Demokratie skeptisch sein und den Unterschichten vielleicht das Wahlrecht nehmen.
Nun hat die Geschichte in den vergangenen zweihundert Jahren tatsächlich und nicht nur in Pinochets Chile immer wieder illustriert, dass kapitalistische Strukturen auch in autoritären Gesellschaften bestens funktionieren. Mir allerdings lief ein kalter Schauer hinunter, als mein Arizonaer Gesprächspartner so direkt die oft rituell beschworene Formel von der angeblichen Einheit von Kapitalismus und Demokratie in Frage stellte – aber nicht um die Demokratie zu retten. Für ihn und andere Interessevertreter des großen Geldes ist Demokratie augenscheinlich nur dann akzeptabel, wenn sie im Kapitalismus den Reichen nützt.
Es ist immer wieder erstaunlich, inwieweit sich selbst einigermaßen intelligente Menschen in allerhand bizarren Wahnvorstellungen verfangen können. Die vom großen Geld bestens subventionierten rechts-konservativen Medien wie Fox und The Weekly Standard sowie die stramm-rechten Fernsehprediger und Radio-Hetzer vom Schlage eines Glenn Beck, Bill O’Reilly, Rush Limbaugh und Sean Hannity haben das ihre dazu beigetragen, dass nicht wenige der republikanischen Kernwähler in einer hermetisch abgeriegelten Fantasie-Welt leben. Zwar ist ihnen zumindest auf Bundesebene durch ihre Wahlniederlage vorerst ein Riegel vorgeschoben, doch 2016 könnte ihnen durchaus das Weiße Haus in den Schoß fallen. Besonders, wenn Obamas zweite Amtszeit noch enttäuschender als seine erste verlaufen sollte.
Nun ist es gerade für diejenigen von uns, die mit dem fanatisierten Milieu der rechten Republikaner kaum Berührung haben, sicherlich recht einfach, deren Weltsichten selbstgerecht zu belächeln. Doch ist es nicht ebenso realitätsfremd, nach dieser Wahl mit der Scheinerkenntnis aufzuatmen, dass das Schlimmste nun erst einmal ausgestanden ist? Gibt es denn stichhaltige Gründe, von Obamas zweiter Amtszeit zu erwarten, was er in seiner ersten zwar versprach, aber nicht einmal ernsthaft versuchte, auf den Weg zu bringen – nämlich die Umstrukturierung der amerikanischen Gesellschaft hin zu sozialem und ökologischen Ausgleich? Ist es nicht ebenso gefährlicher Humbug zu glauben, wir können uns weiter wie bisher durchwursteln, ohne grundlegende Kurskorrekturen? Und die wird es unter den gegenwärtigen Umständen kaum geben. Wie anfangs erwähnt: Ohne Frage stellt Obama im Vergleich mit dem offen raubtier-kapitalistischen Romney das kleinere Übel dar. Und doch hat auch Obama das neo-liberale Dogma verinnerlicht und ist zudem darüber hinaus von den Geldspritzen der Konzerne ebenso abhängig wie die Republikaner. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass Obama – aller kämpferischer Wahlkampfrhetorik zum Trotz – auf die extremistischen Republikaner zugehen und weitreichende Kahlschläge im Sozial- und Bildungsbereich akzeptieren wird. Jeffrey Sachs, einst selbst glühender Anhänger des neoliberalen Turbo-Kapitalismus und heute Verfechter einer ausgewogeneren Wirtschaftspolitik, schätzt die wirklichen Unterschiede zwischen Obamas und Romneys Wirtschaftspolitik als minimal ein. Beide Parteien, die Republikaner wie die Demokraten, so bemerkte Sachs unlängst, planen massive Kürzungen im Umwelt- und Infrastrukturbereich sowie bei staatlichen Subventionen für Schulspeisung, Arbeitsplatzumschulungen und anderen Programmen, auf die besonders die unteren Einkommensschichten angewiesen sind.
Obama und zahlreiche seiner Berater gehen davon aus, dass die Republikaner sich durch Zugeständnisse der Demokraten ebenso zu Zugeständnissen animieren lassen werden. Doch, wie die Redaktion der International Socialist Review vor einigen Wochen durchaus richtig feststellte, sind es nicht die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Demokraten und den Republikanern als solche, die das amerikanische politische Koordinatensystem prägen, sondern der Abstand zwischen diesen Inhalten, und der kann auch bei einem Schmusekurs Obamas durchaus gleich bleiben. Thomas Frank vom linksliberalen Harper’s Magazin brachte es auf den Punkt: Obama geht auf die Republikaner zu, die sich damit allerdings nicht zufrieden geben, sondern ihrerseits weiter nach rechts rücken. Hier genau liegt die symbiotische Dynamik, die die moderateren Demokraten und die offen reaktionären Republikaner miteinander verbindet und das gesamte System sukzessive immer weiter nach rechts zieht.
Das kleinere Übel Obama könnte sich mittelfristig als ebenso schlimm wie die nun glücklicherweise abgewehrte Romney-Präsidentschaft erweisen. Die demokratischen Verpflichtungen der Masse der Amerikaner sind also mit dem Ausfüllen des Wahlzettels keineswegs erfüllt. Ohne entsprechenden Druck von Unten, ohne partizipatorisches Handeln und langen Atem seitens der Bürger kann auch die neue Legislaturperiode nur in Enttäuschung enden.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Barack Obama, Mitt Romney, USA