13. Jahrgang | Nummer 15 | 2. August 2010

Minister in den Lüften

von Margit van Ham

Vielleicht liegt es ja an den Temperaturen, daß meine Träume immer seltsamer werden. Ich gehe ganz friedlich in mein Bett und befinde mich urplötzlich in revolutionären Zuständen. Auf der Fanmeile der Fußballenthusiasten in Berlin stehen hunderttausende Menschen. „Was ist daran seltsam?“ werden Sie fragen. Nun – es geht nicht um Fußball. Hunderttausende bekommt man ohne Fußball selten auf die Straße und gejubelt wird auch weniger. Aber wie gesagt, in meinem Traum standen da Hunderttausende auf der Straße und empörten sich über die sogenannte Gesundheitsreform. Reform als Synonym für Beitragserhöhung und Abzocke von Otto Normalverbraucher. Aber Otto N. wollte diesmal nicht lieb sein.

Die Bundeskanzlerin entsandte ihren Minister, um zum Volk zu reden. Seine mutigen Appelle an die Vernunft und Bitten um Verständnis für die sozialen, ja geradezu solidarischen Gesetzesvorlagen erbosten das Publikum. Pfiffe ertönten und Otto N., der sich noch nicht von seiner Vuvuzela hatte trennen können, entdeckte deren eigentliche Bestimmung. Es gab offensichtlich nicht wenige Menschen, denen die sie genau so lieb und teuer war, denn immer mehr Vuvuzelas gesellten sich zum Pfeifkonzert und übertönten es schließlich. In meinem Traum verbanden sich die Töne plötzlich zu einem starken Wirbelwind, der Herrn Rösler in die Lüfte hob und über den Massen schweben ließ.

Die Kanzlerin sah aus dem Fenster und traute ihren Augen kaum, als sie den Minister in der Luft strampeln sah. „Was hat mir der Guido bloß für ein Leichtgewicht geschickt?“, dachte sie. „Ich brauche etwas Schwergewichtiges.“ Sehnsüchtig fast erinnerte sie sich an den dicken Kohl. Ihre Wahl fiel nun auf Minister Brüderle, der zumindest in körperlich-kompakter Hinsicht die richtigen Qualitäten zu haben schien. Brüderle gefiel das gar nicht, aber er wußte nicht recht, wie er sich wehren sollte, und sein Referent war im Urlaub. Er ging also hinaus und bevor er nur ein Wort sagen konnte, hob ihn der Wirbel der Vuvuzelas ebenfalls in die Luft. Immerhin winkte er der Kanzlerin zu und rief, daß es oben nicht ganz so heiß sei.

Ein Minister nach dem anderen richtete nun das Wort an die Demonstranten. Da kein Regierungsmitglied etwas Vernünftiges zum Thema sagen konnte oder wollte, befand sich bald das gesamte Kabinett in den Lüften. Von unten betrachtete man dieses luftige Spiel mit Begeisterung, und die Hoffnung der Kanzlerin, daß sich die Menge schon irgendwann zerstreuen würde, zerstob. So nahm sie allen Mut zusammen und begab sich auf die Rednertribüne. Nach wenigen Worten war sie bei ihrem Kabinett in den Lüften und rief eine Krisensitzung ein.

Von unten sah das alles sehr spannend aus und die Vuvuzelas wurden immer weiter geblasen, damit die Regierung dort oben auch genug Zeit hätte, ihre Perspektive neu zu justieren. Die ganz Optimistischen unter den Demonstranten erwarteten sogar neue Ideen für eine Reform, die diesen Namen auch verdiente. Otto N. hatte daran allerdings seine Zweifel. Inzwischen war die SPD-Führung aufgewacht und überlegte, ob sie das Bundeskanzleramt besetzen sollte. An dieser Stelle blieb mir sogar im Traum die Luft weg – aber nur für kurze Zeit. Die Beratung führte nämlich zu dem Beschluß, eine Mitgliederbefragung durchzuführen – und zwar in der Rekordzeit von drei Wochen.

Hoch über den Köpfen der Demonstranten war man inzwischen übereingekommen, den vorgelegten Reformentwurf erst einmal zurückzuziehen. Danach würde man weitersehen. Dieser Beschluß wurde aus den Lüften nach unten kommuniziert. Die ermüdeten Vuvuzelabläser wirbelten die Regierung mit lauten Triumphtönen noch einmal durcheinander und ließen sie dann wieder auf der Erde landen. Minister und Kanzlerin begaben sich, ohne auf weiteren Widerstand zu stoßen, sofort ins Kanzleramt. Die Kanzlerin lud die SPD-Führung zu einem Gespräch, in dessen Ergebnis ein neuer Entwurf für eine Gesundheitsreform angekündigt wurde. Zentrale Punkte – das Verbot der gesundheitsgefährdenden Vuvuzela in Deutschland und die Umbenennung des Zusatzbeitrages in „solidarisch-soziale Krankenkassenförderungsabgabe“.

Plötzlich ertönten laute Posaunenklänge und ich erwachte. Leider kann ich die Bedeutung dieser Klänge nun nicht eindeutig interpretieren. Eine neue, größere Revolte? Aber wo sind die Vuvuzelas? Ich kann den Verdacht nicht abschütteln, daß es sich um die von Posaunentönen begleitete Annahme des neuen Vorschlags der Regierung handeln könnte. Wenn ich mich wenigstens erinnern könnte, ob die Posaunen „Lobet den Herrn“ oder „Wacht auf Verdammte dieser Erde“ intoniert haben.