von Kai Agthe
Als Philosoph mißtraute er allem und jedem. Selbst die scheinbar so unverdächtige Logik beäugte er skeptisch – und stellte sie indirekt unter Ideologieverdacht: »Mißverständnis der Logik: sie erklärt nichts, im Gegenteil.« So lautet ein Gedankensplitter aus Friedrich Nietzsches Fragmenten aus dem Umkreis des Willens zur Macht. Ein Diktum, das auch und vor allem gegen die Ahnen Kant, Hegel und Schopenhauer (in Nietzsches Leipziger Studentenjahren immerhin sein geistiger Ziehvater) gerichtet war. Mit Blick auf den Königsberger Philosophen meinte Nietzsche, daß es weder »Causalitäts-Sinn« noch ein »Ding an sich« gebe; Hegels Dialektik kanzelte er ab, indem er diesem und allen anderen philosophischen Systemen einen Mangel an Rechtschaffenheit attestierte; an Schopenhauer wiederum monierte er, daß der Wille bei ihm »ein bloßes leeres Wort« sei. »Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg.« Kant und Hegel waren für den späten Nietzsche nur »philosophische Arbeiter«, aber beileibe keine »Werteschöpfer«.
Da Nietzsche sowohl das Christentum (»›Gott‹ ist eine viel zu extreme Hypothese«) als auch den Darwinismus (»Der Irrthum der Schule Darwins wurde mir zum Problem«) als Welterklärungsmodelle herzlich verachtete, fand er mit dem Willen zur Macht ein neues, eigenes. Allerdings war es ihm, eingedenk seiner im Januar 1889 eingetretenen geistigen Umnachtung, nicht möglich, dieses Hauptwerk erkennbar auszuarbeiten und zu strukturieren. Es blieb ein Steinbruch, was der Tempel seiner Philosophie hätte werden sollen. Nur einige Steine, um in diesem Bild zu bleiben, wurden so weit behauen, daß in etwa erkennbar ist, wo ihr Platz in dem künftigen Bauwerk hätte sein sollen. Eine kluge Auswahl der Bruchstücke zu diesem letzten großen und umstrittenen Philosophem Nietzsches hat Stephan Günzel unter dem Titel Von Wille und Macht herausgegeben. In ihr enthalten ist auch jenes Stichwort, das den Denker des 19. Jahrhunderts in die Nähe zu den Rassentheoretikern des 20. Jahrhunderts rückt. Eine Nähe, die Nietzsche selbst als höchst unangenehm und peinlich empfunden hätte. Aber ein Satz wie »Das was schwach und mißrathen ist soll zu Grunde gehen: oberster Imperativ des Lebens« mit seiner menschenverachtenden Tendenz läßt sich weder schönreden noch entschuldigen.
Das Nachdenken über den Willen zur Macht begann spätestens mit Also sprach Zarathustra (1883/84). Die entsprechenden Kapitel eröffnen den Band. Was hier noch ausformuliert ist, findet sich im Nachlaß nurmehr in kleineren und größeren Notizen angedeutet. Welche Radikalität den Fragmenten zum Teil eingeschrieben ist, war niemandem so bewußt wie ihrem Autor: »Unter dem nicht ungefährlichen Titel ›der Wille zur Macht‹ soll hiermit eine neue Philosophie, oder, deutlicher geredet, der Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens zu Worte kommen.« Wäre es ihm gegeben gewesen, dieses Werk zu vollenden, hätte am Ende nicht ein geordnetes philosophisches System stehen müssen? Diese Frage trieb auch Nietzsche um, der für sich entgegnete: »Vielleicht entdeckt man noch hinter diesem Buche (dem Willen zur Macht, K. A.) das System, dem ich ausgewichen bin …«
Heinrich Blücher (1899-1970) zum Beispiel deutete in einem Brief an seine Frau Hannah Arendt (1906-1975) im Juli 1948 Nietzsches Wille zur Macht als Versuch, »einen neuen Seins- oder diesmal Erdenhimmel aufzurichten«. Über Vorzüge und Nachteile von Nietzsches »Erdenhimmel« nachzudenken, gibt der vorliegende Band reichlich Gelegenheit.
Friedrich Nietzsche: Von Wille und Macht. Herausgegeben von Stephan Günzel. Mit einem Geleitwort von Gianni Vattimo, Insel Verlag Frankfurt/M. und Leipzig, 250 Seiten, 8,50 Euro
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