von Wolfgang Schwarz
In einem Namensbeitrag in der Berliner Zeitung vom 21. November hat der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière beklagt, dass im Lande zwar „über viele Themen gerne und viel diskutiert“ werde, dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik aber leider nicht dazu gehöre. „Mein Eindruck: Viele Menschen fühlen sich in Sachen Sicherheitspolitik nicht ausreichend informiert.“
Diesem „Eindruck“ des Ministers kann nur zugestimmt werden. Ich als Bürger würde mich zum Beispiel von meiner Regierung gern ausreichend darüber informieren lassen, warum immer noch etwa 20 amerikanische Kernsprengköpfe auf dem Bundesluftwaffen-Fliegerhorst bei Büchel in der Eifel lagern, um gegebenenfalls mit völlig veralteten deutschen Tornado-Kampfbombern ans Ziel gebracht zu werden. Als potenzieller Gegner kommt da nur Russland in Frage, so dass anzunehmen ist, dass auch die Russen weiterhin nuklear auf uns zielen, um im Falle eines eskalierenden Konfliktes diese Bedrohung gegebenenfalls präventiv ausschalten zu können.
Von unserer Regierung hieß es in diesem Kontext zwar schon mal, die US-Sprengköpfe seien eine Art Faustpfand, um Moskau irgendwann zur Abrüstung von Tausenden von russischen taktischen Kernwaffen zu veranlassen. Angesichts der numerischen Relationen klingt das jedoch so aberwitzig, dass in der Koalitionsvereinbarung der jetzigen schwarz-gelben Regierung trotzdem verankert wurde, dass man auf den kompletten Abzug der letzten US-Sprengköpfe hinwirken wolle. Inzwischen häufen sich jedoch die Indizien, dass die Regierung sich davon klamm-heimlich verabschiedet hat und ab 2019 den Austausch der alten Sprengköpfe in Büchel gegen grundlegend modernisierte neue akzeptieren würde, wenn sie denn da noch im Amt wäre. Das alles zusammen ergibt eine reichlich verworrene Gemengelage. Vielleicht zu verworren, so dass der Minister in seinem Zeitungsbeitrag wohl nicht den Platz hatte …; das Thema kommt jedenfalls nicht vor.
Aber es gibt ja noch andere wichtige sicherheitspolitische Fragen. So trifft de Maizière durchaus einen zentralen Punkt, wenn er schreibt: „Kein Konflikt kann dauerhaft militärisch gelöst werden.“ Allerdings behauptet er gleich im Anschluss: „Aber das Politische kann […] manchmal nur mit Hilfe des Militärischen erfolgreich sein.“ Er belegt diese These allerdings nicht mit aktuellen Beispielen. Warum? Vielleicht aus dem Grund, weil nach allem, was der Westen in Gestalt der NATO und diverser „Koalitionen der Willigen“ seit Ende des Kalten Krieges in der Welt militärisch so angerichtet hat – ob auf dem Balkan, im Irak, in Libyen, in Afghanistan – eigentlich nur die Sinnfrage mindestens im Hinblick auf Militärinterventionen zur Beseitigung nicht genehmer Regimes und zum Aufbau staatlicher Strukturen nach westlichem Vorbild gestellt werden kann – und grundsätzlich verneint werden muss. Vielleicht aber auch, weil im einzigen Falle der letzten 20 Jahre, in dem internationale, von der UNO sanktionierte militärische Gewalt das Schlimmste hätte verhindern können, in Ruanda, der Westen, die Bundesrepublik inklusive, dem Völkermord tatenlos zugesehen hat. De Maizière kategorisiert Ruanda im Rückblick wenigstens in die Rubrik Unterlassungen ein, verweist aber im Übrigen darauf, dass in „jedem Fall […] eine klare Antwort auf die Frage notwendig“ sei, „inwieweit die Interessen Deutschlands […] den Einsatz erfordern und rechtfertigen“. Besteht in Fällen wie Ruanda womöglich eben kein „deutsches Interesse“? Der Minister äußert sich dazu leider ebenfalls nicht.
Apropos Afghanistan: Für das Land am Hindukusch sehen Experten nach über zehn Jahren westlicher Kriegführung für die Zeit nach dem Abzug der Masse der Interventionsstreitkräfte, der bis Ende 2014 oder rascher erfolgen soll, unisono nur noch die Alternative eines langjährig fortgesetzten Bürgerkrieges oder gar einer raschen Rückkehr der Taliban an die Macht. Selbst der jüngste „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung zeichnet laut Spiegel „ein düsteres Bild von der Sicherheitslage“ im Lande. Westlicherseits noch desaströser gescheitert mit einer Militärintervention sind eigentlich nur die USA vor 40 Jahren in Indochina. Und unser Verteidigungsminister, der in der Berliner Zeitung für „eine etwas grundlegendere Diskussion über die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ plädiert? Der sieht gar keinen grundsätzlichen Diskussionsbedarf, denn seine Bilanz, Afghanistan eingeschlossen, liest sich folgendermaßen: „Rund 6.600 deutsche Soldatinnen und Soldaten leisten in zwölf Einsätzen auf drei Kontinenten einen wesentlichen Beitrag zu einer wirksamen und verantwortungsvollen Außen- und Sicherheitspolitik.“
Zu dieser wirksamen und verantwortungsvollen … gehört zum Beispiel auch das derzeitige Training somalischer Rekruten für den Häuser- und Anti-Guerilla-Kampf durch Bundeswehrangehörige im Rahmen einer EU-Mission. Den Haken an dieser Sache benannte Lorenz Hemicker kürzlich in der FAZ: „Ob die Männer später auf der richtigen Seite stehen, weiß niemand.“ Damit die Rekruten nach der Ausbildung möglichst nicht zu den somalischen Warlords wechseln, zahlen die Amerikaner 100 Dollar Sold pro Mann und Monat. Trotzdem könnte, so Hemicker weiter, dieses Modell „zur Blaupause werden […] für eine Ausbildungsmission in Mali, die in Brüssel gerade auf dem Reißbrett entworfen wird“. Und de Maizière bestätigt: „Aktuell diskutieren wir, ob wir die Bundeswehr in Mali einsetzen, um das Land zu stabilisieren.“ Genaueres? Debatte? Fehlanzeige. Aber immerhin gibt der Minister der nicht ausreichend informierten deutschen Öffentlichkeit ein Motiv an die Hand, sich selbst intensiver mit diesen Fragen zu befassen: „Als starkes Mitglied der internationalen Gemeinschaft wird Deutschland künftig häufiger gefragt werden, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen – auch militärisch.“
Dass unsere anglo-amerikanischen Verbündeten uns in dieser Hinsicht für Weicheier halten, scheint für den Minister ein treibendes Motiv zu sein, sich jetzt öffentlich zu äußern. Er kommt jedenfalls gleich zweimal auf einen nicht lange zurückliegenden Beitrag des britischen Economist zurück, der „No shooting please, we’re German“ betitelt war und der Mehrheit der (West-)Deutschen einen militanten Pazifismus seit Ende des Zweiten Weltkrieges bescheinigte. Darüber hinaus, so de Maizière, sei in diesem Beitrag zu lesen gewesen: „Moralisch seien die Deutschen aber dennoch nicht besser als andere. Nur die USA und Russland würden mehr Waffen exportieren.“ Der Minister seinerseits glaubt nicht, dass „wir Deutsche militante Pazifisten und Moralapostel“ seien.
Apropos deutsche Rüstungsexporte: Der seit Jahren anhaltende Boom, mit dem Platz drei im globalen Ranking „errungen“ und „verteidigt“ wurde, geht einerseits schon auf das rot-grüne Kabinett unter Gerhard Schröder zurück. Andererseits liegt der Economist mit seiner Moralkeule völlig daneben, denn die Deutschen werden auch in dieser sicherheits- und wirtschaftspolitischen Frage traditionell nicht nach ihrer Meinung gefragt. Ob Leopard II für Saudi-Arabien oder auf Nuklearwaffen umrüstbare U-Boote für Israel – hier dealt ausschließlich die Bundesregierung mit der Rüstungsindustrie, und der so genannte Bundessicherheitsrat fällt die Entscheidungen nach Interessenlage, aber in gesetzlich verordneter Geheimhaltung. Die Öffentlichkeit wird offiziell häufig gar nicht informiert. Und die jährlichen Rüstungsexportberichte der Regierung verschleiern mehr als sie aufklären – ganz abgesehen davon, dass sie überhaupt nur mit großer zeitlicher Verzögerung, also im Nachtrab, erscheinen.
Im jetzigen Beitrag des Ministers auch dazu – kein Wort. Das nun verwundert jedoch nicht wirklich bei einem Manne, der im Hinblick auf den Export von Waffensystemen ins Ausland ganz aktuell und ganz pauschal dem Spiegel erklärte: „Da muss die deutsche Industrie […] und nicht zuvorderst die Bundesregierung entscheiden, ob sie das für richtig hält.“ Und das bei einem Manne, der der – angesichts des deutlich zurückgegangenen „Hardware“-Bedarfs der Bundeswehr und infolge von Absatzschwierigkeiten im Ausland im Ergebnis der Finanz- und Wirtschaftskrise – arg gebeutelten Rüstungsbranche verstärkte staatliche Unterstützung in Exportfragen zugesagt hat. Wie diese konkret aussieht, darüber wiederum wird die deutsche Öffentlichkeit auch künftig unzureichend informiert bleiben.
Ein Wort noch zum Völkerrecht, dessen Werten und Grundsätzen die deutsche Sicherheitspolitik verpflichtet sei, wie der Minister unter Verweis auf die von ihm erlassenen verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai vergangenen Jahres in seinem Beitrag für die Berliner Zeitung unterstreicht. Es ist zu hoffen, dass diese Bindungswirkung auch in Zukunft wenigstens so stark bleibt, wie es in der deutschen Nichtbeteiligung am völkerrechtswidrigen Einmarsch der USA und ihrer Hilfswilligen im Irak und an der NATO-Kriegführung in Libyen zum Ausdruck kam. Damit ist aber mindestens implizit die Frage aufgeworfen, wie man es künftig eigentlich mit einer Bündnisführungsmacht halten soll, die bereit ist, das Völkerrecht und die Menschenrechte, immer wenn ihr das zweckmäßig erscheint, vorsätzlich zu verletzten – durch Nichtanerkennung des Haager Kriegsverbrechertribunals, durch Gefangenenmisshandlung einschließlich Folter, durch „targeted killing“ mittels Drohnen auf fremden Territorien, ja selbst durch Angriffskrieg. Der Minister fragt: „Und wie verhalten wir uns, wenn es zu einer Kollision von Werten und Interessen kommt? Wie verhalten wir uns, wenn wir im Interesse der Stabilität auf eine Zusammenarbeit angewiesen sind, unser Gegenüber aber nicht unsere Werte teilt?“ Er wird dabei zwar kaum die NATO-Führungsmacht im Auge gehabt haben, nichts desto trotz wirft deren geopolitisches Agieren genau solche Fragen auf.
Und schließlich eine Bemerkung zum Minister selbst. Er vertritt als Christ, wie er expressis verbis schreibt, „die Überzeugung: Gewalt bleibt immer ein Übel, auch wenn sie einem guten Zweck dient“. Im Zusammenhang mit der von ihm vehement befürworteten Beschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr ließ er laut ARD-Magazin Monitor allerdings verbreiten: „Gezieltes Töten ist ein Fortschritt.“ Das soll ihm hier nicht als wörtliches Zitat in den Mund gelegt werden. Allerdings ist auch eine Aussage, wie er sie gegenüber Welt Online getroffen hat – „ethisch ist eine Waffe stets als neutral zu betrachten“ – nicht nur in Anbetracht der Existenz von Kernwaffen höchst fragwürdig. Wie er solches „Philosophieren“ mit seinem christlichen Bekenntnis vereinbart, mag sein Geheimnis bleiben. Glaubhaftigkeit erwirbt man auf diese Weise schwerlich.
Der gesamte Beitrag de Maizières für die Berliner Zeitung gibt ihm letzten Endes durchaus Recht, wenn er im Hinblick auf den unterbelichteten Zustand der sicherheitspolitischen Debattenkultur in Deutschland konstatiert: „Eine Mitschuld daran tragen sicherlich auch wir Politiker.“ Ob darin nicht auch eine der Ursachen für die vom Minister konstatierte „deutsche Unlust am sicherheitspolitischen Diskurs“ liegt? Und ob die Berliner Zeitung den Beitrag deswegen nicht im politischen Hauptteil des Blattes platziert hat, sondern im Feuilleton?
Schlagwörter: militärische Gewalt, NATO, Sicherheitspolitik, Strategie, Thomas de Maizière, Wolfgang Schwarz