15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Don Quixote auf der Yamanotelinie

von Sem Pflaumenfeld, Tokio

Don Quixote verkauft auch Decken. Jedenfalls sagten mir das die beiden Damen, mit denen ich am Sonntagnachmittag essen war. Der spanische Schelm, der als Vertreter einer ganzen Literaturgattung in die Geschichte eingehen sollte, steht in der japanischen Hauptstadt für eine Ladenkette, in der fast alles zu erwerben ist. Wie der Pícaro – der „gemeine Kerl von üblem Lebenswandel“ – war auch ich auf der Suche nach etwas. Nur scheint mein Leben dabei kein Roman zu sein, denn ich wollte mir ganz irdisch eine zweite Decke kaufen. Die Tage lassen immer weniger die Sonne heraus und schenken uns stattdessen Regen. In den Nächten wird es dagegen kalt. Da ich die mir von meiner Vermietung zugestandene Decke für den Rücken brauche, musste eine weitere für den Bauch her. Denn wenn ich schon ein Bett zur Verfügung habe, muss es unbedingt ein hartes sein. Ich hätte lieber traditionell japanisch auf dem Boden geschlafen.
So standen wir drei Frauen in dem großen Geschäft an einer der Stationen der hauptstädtischen Ringbahn und begutachteten die Decken. Die Preise waren wirklich annehmbar, und ich konnte mit Visakarte bezahlen. Wir philosophierten, ob eine der Decken mit braunem Muster den Gegebenheiten meines derzeitigen Lebens angemessener war, oder ich mich nicht doch lieber an die hiesigen Vorgaben für Frauen halten sollte. „Kawaii“ ist, was knuddlig und süß ist und irgendwie das Herz erwärmt. Das entspricht im Internet der Vorliebe für alles, was mit Katzen zu tun hat. Wir entschieden uns für die Decken mit den Rosen. Ich bin gespannt, wie lange ich sie unbeschmutzt lassen kann.
Vor dem Laden bekam ich dann auch eine Lektion in der Wissenschaft des Sozialen. Ich hantierte noch mit meiner Visakarte, als ich schon gewarnt wurde, dass ich meine Tasche gefährlich halten würde. Meine Umhängetasche habe ich immer quer über dem Oberkörper und meistens baumelt sie mir im Kreuz. Japan sei in den letzten Jahren gefährlicher geworden, wurde mir gesagt. Vor allem vor Läden wie dem Don Quixote sollte ich mein Geld nah bei mir haben. Vorher wurde mir noch erzählt, dass besonders viele Menschen aus China und Korea dort wegen der billigen Preise einkaufen gingen. Aber die Gefährlichkeit läge eher an der Zunahme von Arbeits- und Obdachlosigkeit. Vor dem Bahnhof selbst lagen dann auch die Männer, die ihre weltliche Habe bei sich haben. Umgeben von den Studierenden und deren Fahrrädern ignorieren sie die Welt, und die Welt ignoriert sie. Die Straße, an der sie kampieren, führt zu einer der berühmtesten japanischen Privatuniversitäten. Während im Park von Ueno Obdachlosigkeit durch die kleinen Hütten aus blauen Plastikplanen angezeigt wird, haben die Menschen an den Bahnhöfen diesen Luxus nicht mehr. Armut wird auch in Tokyo immer sichtbarer.
Und die wirtschaftliche Lage wird sich nicht bessern. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum außerhalb der Nachrichten das Leben in seinen gewohnten Bahnen weiterzugehen scheint. Die Opposition will dem Gesetz zur Neuverschuldung von Premierminister Noda nur dann zustimmen, wenn er endlich das Datum für Neuwahlen festsetzt. Deswegen streiten sie sich auch im Parlament darüber, ob er mit seinem Versprechen gelogen hat. Beide Seiten haben dabei seltsamerweise recht: Noda sagte nur, dass Neuwahlen stattfinden werden, und darauf will ihn besonders die LDP nun festnageln. Drei Themen bestimmen gerade die möglichen Koalitionen: die Atomfrage, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Beitritt zur TPP (Trans-Pacific Strategic Economic Partnership Agreement beziehungsweise Trans-Pacific Partnership). Sie alle haben langfristig ökonomische Folgen für das Land. Der Beitritt zur Freihandelsorganisation würden den wirtschaftlichen Fokus in Richtung Amerika verschieben und damit auch eine Kooperation mit ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) erschweren. Das mag angesichts der diplomatischen Auseinandersetzungen mit China und den Einbußen auf dem Markt des Kontinents ein Weg sein, wird aber langfristig die asiatischen Nachbarn nicht von einer Kooperationsbereitschaft Japans überzeugen.
Doch die Medien beschäftigen sich lieber mit den Symptomen der sozialen Unsicherheit. In den letzten Wochen wurde von mehr Tötungsdelikten berichtet, als ich vorher in Japan so gehäuft wahrgenommen hatte. Besonders ein Fall scheint alle Zutaten für den gepflegten Grusel zu haben. Japan hat eine mutmaßliche Serienmörderin, deren Gesicht nicht häufig genug in den Nachrichten zu sehen sein kann. Nun handelt es sich bei ihr nicht um eine brave Hausfrau, deren Opfer nach und nach im Keller eines ihrer vormaligen Häuser oder in zementverschlossenen Tonnen im Wasser gefunden wurden. Seit Anfang des Jahres steht die Frau im Verdacht, mehrere Menschen über mindestens ein Jahrzehnt getötet zu haben. Und die Augenzeugenberichte sind erschreckend ob der Ignoranz und der Tatenlosigkeit ihrer Umgebung. Denn die Taten einer über Sechzigjährigen gehen auf ein Leben der Gewalt zurück. Dabei war sie zwar in ihrer Kindheit Opfer, jedoch übte sie über Jahre Gewalt an anderen aus. Das ist weder ihren Nachbarn noch den Behörden verborgen geblieben. Sie soll sogar eine eigene Gruppe der japanischen Mafia geführt haben. Doch es ist einfacher, diese Frau als pathologisches Monster darzustellen als als Mensch in einer Gesellschaft, die weg sieht, wenn Gewalt in den eigenen vier Wänden geschieht. Armut oder der Wille zum Töten sind keine schönen Motive für fernsehtaugliche Krimierzählungen. Auch ich bin von den Krimiserien begeistert, die hier gerade besonders beliebt sind. Nach dem bekannten Muster der alten Krimis stellt ein brillanter Ermittler am Ende die bürgerlichen Mörder. Schon die Krimidamen wie Christie oder Sayers des imperialen Englands wussten, dass ein richtig guter Mord Muße und Geld braucht, um wenigstens für eine Weile unentdeckt zu bleiben und uns in gespannter Erwartung zu halten.
Dafür sehen wir vermehrt häusliche Gewalt und Arbeitslosigkeit in Abendserien. Doch sie sind seltsam privatistisch. Entlassungen, seien sie nun berechtigt oder nicht, werden nicht angefochten; Arbeitsrecht eignet sich nicht für Drama. Die staatlichen Organe sind auch in Familienauseinandersetzungen selten zu finden. Ich bin nun ganz froh, dass hier keine falschen Gerichte versuchen zu klären, was auch im deutschen Fernsehen in keiner Serie vorkommt. In Japan würde wohl hinzukommen, dass niemand wirklich wissen will, wie ein Gerichtssaal von innen aussieht. Vor allem das Strafrecht kennt harte Erziehungsmaßnahmen. Gerichtsbarkeit erscheint dafür in den Historiendramen, als die Legislative mit der Judikativen noch überschaubar aus wenigen Menschen bestand. Wunderbare Kampfszenen lassen sich dann mit der Milde verbinden, die das Schwert auch kennt, wenn es die Unterdrückten beschützen soll. Beliebt sind die Serien, die in der Edo- (1600-1868) und damit in einer imaginierten Feudalzeit spielen. Unrecht und Gerechtigkeit lassen sich nämlich gut in der Geschichte darstellen, in der die Aufrechten die Hierarchien für die richtigen Ziele benutzen. Jedoch wenn die schwerttragenden Männer damals wirklich so viele böse Menschen gerecht getötet hätten, wäre von der Bevölkerung wenig übrig geblieben. Das Land muss vor hinterlistigen Menschen nur so gewimmelt haben.
Wie unser Pícaro bewege ich mich nun durch eine moderne Stadt, nur wäre ein Pferd dafür ökonomisch und verkehrstechnisch eher Unsinn. Ich gehe zu Fuß und benutze die Bahn. Dabei lasse ich mir nicht einreden, dass ich mich in Japan nicht mehr auf die Straße trauen kann, weil das soziale Klima kälter wird.