15. Jahrgang | Nummer 22 | 29. Oktober 2012

Der Frauenversteher

von F.-B. Habel

„Nein – solche Dinge haben keine Fortsetzung. Oder glaubten Sie, wir wollten nun Reihenbändchen herausgeben: ,Rheinsberg – III./IV. Teil’ oder ,Die Claire als Großmama’? Lieber nicht, wie? Aber erinnern – eine Erinnerung muß wohl erlaubt sein.“

Kurt Tucholsky
in
Rheinsberg. Vorrede zum fünfzigsten Tausend, 1920

Kitty Frankfurter, Else Weil, Mary Gerold, Lisa Matthias, Aline Valangin, Hedwig Müller, Gertrude Meyer – das ist eine weitgehend unvollständige Aufzählung der Frauen, zu denen Kurt Tucholsky in engerer Beziehung stand, und mit zweien davon war er sogar kurzfristig verheiratet. Was war es, das Tucho stets an Frauen anzog und wieder abstieß?
In ein paar Tagen jährt sich die Ersterscheinung der Erzählung „Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte“ zum 100. Mal.* In Rheinsberg verlebte der anderweitig Verlobte im August 1911 ein paar verliebte Tage mit der Medizinstudentin Else Weil. Auf den Spuren der beiden kamen aus Anlass des Jubiläums die Mitglieder der Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) nach zwanzig Jahren erneut zu ihrer Jahrestagung in die Ostprignitz, um zum Thema „Tucholsky und die Frauen“ zu diskutieren.
Mehrere Bücher mit Bezug zu dieser Problematik sind in jüngerer Zeit erschienen, darunter das biografische Werk „Tucholsky. Ein deutsches Leben“ von Rolf Hosfeld und „Es war wie Glas zwischen uns“ von Klaus Bellin. Beide Autoren kamen nach Rheinsberg, lasen vor und diskutierten über ihre Tucholsky-Bilder. Hosfeld, der eindeutig besser schreiben als referieren kann, griff Lisa Matthias´ Wort vom Erotomanen auf. Dem widersprach der KTG-Vorsitzende Ian King aus London entschieden. Vieles an Tucholsky weise darauf hin, dass er sich gut in die Gefühlswelt von Frauen hineinversetzen konnte, mithin das war, was man mit einem heutigen Modewort als „Frauenversteher“ bezeichne. Mit dieser These fand King zu seiner Überraschung gerade beim weiblichen Tagungspublikum rege Zustimmung. Der gebürtige Schotte hatte Tucholskys Witwe Mary Gerold in den siebziger Jahren noch kennengelernt und konnte in etwa einschätzen, wie sie zu Tucho gestanden haben mochte. Das deckt sich ungefähr mit dem Bild, das Klaus Bellin in seinem Buch zeichnet, das Briefzitate und Zeitzeugenberichte zu einem Doppelporträt Mary & Kurt fügt. Mary liebte Kurt wirklich, und sie litt darunter, dass er zu keiner allzu engen Nähe fähig war, obwohl er sie zugleich verstand.
Mary war die zweite Frau Tucholsky, die erste war eben jene Claire aus „Rheinsberg“, Else Weil, die neun Jahre nach dem „Rheinsberg“-Erlebnis mit Tucho in den Bund der Ehe trat. Über sie war jahrzehntelang allzu wenig bekannt. Erst, als sich im Gästebuch des Rheinsberger Kurt Tucholsky-Literaturmuseums eine Verwandte aus London verewigte, gelang es dem Leiter Peter Böthig, die Spur aufzunehmen. Seine Mitarbeiterin Sunhild Pflug berichtete jetzt der KTG über ihre Forschungsergebnisse, die schon einmal Eingang in ein Büchlein fanden, wie auch im Blättchen berichtet worden ist – siehe das Medienmosaik in der Ausgabe 19/2009.
Inzwischen konnte noch vieles aus der Familiengeschichte der Weils ergänzt werden, und Sunhild Pflugs Vortrag geriet zu einem Höhepunkt der Tagung. Die aus jüdischer Familie stammende Else Weil, die ihre Trennung von Tucholsky als bitter empfand, aber auch notwendig, um ihre Selbstachtung zu bewahren, verlor 1933 ihre Approbation, arbeitete als Kindermädchen, floh nach Frankreich, wo sie von den Nazis eingeholt und von willfährigen Franzosen interniert wurde. „Jeder seins – das hat die klügste Frau gesagt, die ich kennengelernt habe. Ich war ein bißchen mit ihr verheiratet“, schrieb Tucholsky, sein Versagen bedauernd, im Jahre 1930 in einem Brief über sie. Damals konnte er nicht ahnen, dass der Spruch „Jedem das Seine“ den Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald zieren sollte. Else Weil ist 1942 in Auschwitz umgekommen.
So unpolitisch, wie das Thema „Tucholsky und die Frauen“ schien, war es denn doch nicht, was seinen Ausdruck darin fand, dass während der Tagung die NPD in Rheinsberg eine „Mahnwache“ veranstaltete. Der Partei waren die Benzinpreise ein Dorn im Auge, und selbstverständlich durften sie dank unserer Demokratie für ihre populistischen und völkischen Ziele demonstrieren. Nur wenige NPD-Aktivisten betrieben dieses Geschäft, und ein Bündnis von Kirche, Bürgerinitiativen und Politik (auch der CDU-Bürgermeister Rheinsbergs engagierte sich stark) war auf einer zahlenmäßig überlegenen Gegen-Demo vertreten. Vertreter der literarischen Gesellschaften von Erich Mühsam und Erich Maria Remarque waren ebenfalls bei der Tagung, und gaben ihrer Verachtung für die Parolen der NPD Ausdruck, die so gerade eben noch nicht den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllten. Auf KTG-Seite rief der junge Leipziger Verleger Steffen Ille den rechtsradikalen Benzinpreiskritikern mit Tucholsky entgegen: „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ Dass das ein haushoher Punktsieg für die Demokraten wurde, ist leider nur ein Zwischenergebnis. Zur Beruhigung besteht kein Anlass.

* – Siehe auch in der aktuellen Blättchen-Sonderausgabe den Beitrag von Werner Liersch „Zwischenspiel – Tucholsky in Rheinsberg“.