von Götz Neuneck
Meeresstille, einlaufendes Atlantikwasser, rote Erde und ab und zu weiße Möwen am blauen Himmel: Pugwash im August 2012. Ein friedlicher Ort an der dem kanadischen Festland zugewandten Seite Neuschottlands. Auf einem Landvorsprung steht auf einer sanften grünen Anhöhe, dicht am Wasser ein weiß strahlendes zweistöckiges Holzhaus mit überdachter Veranda und den typischen Dachgiebeln einer Sommervilla: Thinkers Lodge – so hat man diesem historischen Ort getauft. Es ist ein stiller Platz, an dem man den Gezeiten zuschauen und sich Gedanken über den Zustand der Welt machen kann.
Das Sommerhaus des reichen Industriellen Cyrus Eaton (1883-1979) war im Juli 1957 Schauplatz eines historischen Treffens, zu dem Bertrand Russell 27 bekannte Naturwissenschaftler – darunter Robert Oppenheimer, Niels Bohr und Otto Hahn – eingeladen hatte. Russell hatte 1955 das so genannte „Russell-Einstein-Manifest“ verfasst, Einstein hat es wenige Tage vor seinem Tod noch unterschrieben. Es wurde am 9. Juli 1955 in London der Weltpresse vorgestellt und erzielte sehr schnell weltweite Resonanz. Der erste Satz lautet: „In der tragischen Lage, mit der die Menschheit konfrontiert ist, finden wir dass Wissenschaftler sich zur Aussprache zusammenfinden sollen, um die Gefahren, die aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind, abzuschätzen.“ Es waren Physiker, die nach der Entdeckung der Kernspaltung im Dezember 1938 Militärs und Politik auf die Möglichkeit der militärischen wie der friedlichen Nutzung der Kernenergie aufmerksam gemacht hatten, und zwar in Deutschland, Japan, Russland, England und in den USA. Spätestens mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki war das Atomzeitalter eingeläutet worden, und die Folge im nach 1945 einsetzenden Kalten Krieg war ein ebenso gefährliches wie ruinöses Wettrüsten, vor dem nicht zuletzt Wissenschaftler – auch solche, die an der nuklearen Grundlagenforschung oder direkt an der Entwicklung der ersten Kernwaffen beteiligt waren, – gewarnt hatten. Nun wollten Wissenschaftler selbst Wege zur Konfliktbeilegung, zur Abschaffung der Atomwaffen und letztlich zur Beseitigung des Krieges diskutieren. Das „Russell-Einstein-Manifest“ wandte sich 1957 blockübergreifend nicht nur an die jeweiligen Regierungen, sondern an alle Menschen: „Wir appellieren als Menschen an Menschen: Denkt an Eure Menschlichkeit und vergesst den Rest.“
Das erste internationale Wissenschaftler-Treffen fand in Pugwash im Juli 1957, mitten im Kalten Krieg, statt und wurde ermöglicht durch den Philanthropen Cyrus Eaton , der sein Sommerdomizil zu Verfügung stellte. Der Koreakrieg, die Berlinkrisen und die fortschreitenden überirdischen Nukleartests hatten deutlich gemacht, dass die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Nukleareinsatzes, aber in weit größerem Ausmaß als 1945 – nämlich im Rahmen einer militärischen Ost-West-Auseinandersetzung –, stark angewachsen war und dass die beteiligten Regierungen offenkundig keine Rezepte gegen die Eskalation der Waffenentwicklung hatten, vom politischen Willen in der damaligen Zeit ganz abgesehen. Nun wurden Bomben entwickelt wurden, die die tausendfache Sprengkraft derjenigen von Hiroshima und Nagasaki hatten. Im Manifest hieß es, „daß ein Krieg mit Wasserstoffbomben der menschlichen Rasse möglicherweise ein Ende setzt.“ Die Unterzeichner forderten: „Wir müssen lernen, in neuer Weise zu denken“.
Pugwash ist auch heute noch ein verträumtes Fischerdorf an der Nordküste von Neuschottland. Sein Name leitet sich aus der Sprache der Eingeborenen her und bedeutet so viel wie „Flaches Wasser“. Er bezieht sich auf den Fluss, der an dem Dorf vorbeifließt. Das verschlafene Dorf mit 800 Einwohnern lebt traditionell von Fischerei und von der größten unterirdische Salzmine im westlichen Teil Kanadas. Pugwash begrüßt seine Besucher mit dem Motto „World Famous for Peace“. Gemeint ist zuallererst der „nukleare Frieden“, über dessen Aussichten 1957 erstmalig blockübergreifend geredet wurde. Die 22 Wissenschaftler trafen zusammen, davon sieben aus den USA, drei je aus der UdSSR und Japan, je zwei aus Großbritannien und Kanada und je einer aus Australien, Österreich, China, Frankreich und Polen, darunter auch drei Nobelpreisträger, um konkret über die Probleme des nuklearen Wettrüstens und die soziale Verantwortung der Wissenschaftler zu diskutieren. Deutsche Wissenschaftler wie Otto Hahn und Werner Heisenberg waren zwar eingeladen, kamen aber nicht. Am 12. April 1957 hatten sich achtzehn führende deutsche Kernphysiker in der Göttinger Erklärung gegen eine Bewaffnung Deutschlands mit Nuklearwaffen ausgesprochen, vor den verheerenden Folgen eines Nuklearkrieges gewarnt und erklärt, sie seien nicht bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung und dem Einsatz solcher Waffen zu beteiligen. Am Ende des viertägigen ersten Pugwash-Treffens verabschiedeten die Teilnehmer zwölf „gemeinsame Überzeugungen“ – darunter die Verpflichtung, alles in ihrer Macht stehende zur Erhaltung des Friedens zu tun, sowie die Warnung an die Regierungen der Welt, dass ein Nuklearkrieg zur Auslöschung der Menschheit führen kann.
Eatons Sommerhaus ist heute ein Museum. Fotos an den Wänden zeugen von den intensiven Gesprächen der ersten Konferenz. Eines zeigt Leo Szilard, der die Idee zur Kettenreaktion hatte und an der Abfassung von Einsteins Brief an Roosevelt beteiligt war, der das Manhattan-Projekt zur Entwicklung von Atomwaffen in den USA zur Folge hatte, und das russischen Akademiemitglied A. Topchew, ein anderes den Japaner Tomonaga mit dem Chinesen Chou Pei-Yuan. Die erste Pugwash-Konferenz war gleichsam das Vorbild für die bis heute ca. 350 weitere Workshops und Konferenzen, die den Ruf der „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“ ausmachen. Treibende Kraft, nach dem ersten Treffen daraus eine Bewegung und eine Organisation zu schaffen, war besonders der aus Polen stammende Physiker Joseph Rotblat, der wohl als einziger Wissenschaftler 1944 das Manhattan-Projekt aus ethischen Gründen verlassen hatte, als klar wurde, dass Deutschland besiegt war und nicht über die Atombombe verfügte. Allein dafür hat er den Friedensnobelpreis, den er 1995, gemeinsam mit der Pugwash-Bewegung bekam, verdient. Rotblats Motto: „Entweder die Welt eliminiert die Nuklearwaffen, oder wir werden mit der Aussicht konfrontiert, dass diese Waffen uns abschaffen.“ Demgegenüber haben viele seiner Physikerkollegen aus technischem Interesse, „historischer Mission“ oder aus ideologischen Gründen weiter an Nuklearwaffen gearbeitet, in Ost wie West.
Eine Vitrine im Sommerhaus beherbergt die Plakette des Nobelpreiskomitees. In der Preisbegründung heißt es unter anderem: „Es ist für die Pugwash-Bewegung charakteristisch, dass sie immer Ideale und Lang-Zeit-Ziele mit konkreter Arbeit für unmittelbare Zielvorgaben kombiniert hat. Sie hat nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien gesucht und sie wurde nicht in den politischen Entscheidungsfindungsprozess hineingezogen. Was sie am besten machen konnte, ist die Tatsache, dass Wissenschaftler einen gemeinsamen Referenzrahmen besitzen und die gleiche Sprache jenseits ideologischer, religiöser und nationaler Trennungslinien sprechen.“ (Heute ist das Ausmaß an Weitsicht und Zivilcourage, die nötig waren, um Ende der 50er Jahre, in den Hochzeiten des Kalten Krieges, direkt mit dem Gegner zu reden, kaum mehr nachvollziehbar. Zudem waren Treffen von hochrangigen Wissenschaftlern aus Ost und West und später Nord und Süd zu jener Zeit ein Novum. Erst später entstanden weitere Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, die heute ebenfalls diese besondere Art von „quiet diplomacy“ wie Pugwash verfolgen. Dazu mehr im Teil II.)
Weitere Fotos im Sommerhaus rufen die Höhepunkten des Kalten Krieges und die Gefahr der Selbstauslöschung in Erinnerung, der sich die Welt in jenen Jahren wiederholt gegenüber sah. Bei den Berlinkrisen, im Koreakrieg und während der Kubakrise 1962 wurde der Einsatz von Atomwaffen erwogen und vorbreitet.
Die schmucke Sommervilla ist heute restauriert und erstrahlt in weißem Glanz. Sie wird täglich von Touristen besichtigt, obwohl Pugwash ca. anderthalb Autostunden von Halifax entfernt liegt. Vor der Küste von Neuschottland war am 15. April 1914 die Titanic gesunken, einst das stolze Fortschrittssymbol unbesiegbarer Technik. Viele Opfer liegen auf drei Friedhöfen in Halifax begraben. Teile von Halifax wurden am 6. Dezember 1917 durch die Explosion eines französischen Munitionsschiffs nach einer Kollision mit einem norwegischen Frachter zerstört. Die Explosionskraft entsprach 3.000 Tonnen TNT, und sie war bis zu Explosion der Hiroshima-Bombe die größte vom Menschen je verursachte Detonation; sie kostete ca. 2.000 Menschen das Leben und verletzte weitere 9.000.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Frieden, Götz Neuneck, Kernwaffen, Krieg, Pugwash, Russell-Einstein-Manifest