von Wolfgang Brauer
1573 wurden – zum wiederholten Male – alle Juden aus dem Kurfürstentum Brandenburg vertrieben. Erst im Mai 1671 durften die ersten Familien wieder einwandern. Fortan bedurfte es besonderer Genehmigungen respektive kurfürstlich-königlicher „Privilegien“ zur Ansiedlung, ja zum Aufenthaltsrecht für die Kinder bis hin zu besonderen königlichen „Konzessionen zur Verheiratung“ dieser. Selbst der ob seiner vorgeblichen Toleranz zurzeit über den grünen Klee gelobte „Größe König“ war hinsichtlich einer antijüdischen Repressionspolitik gegenüber „seinen“ Schutzjuden und deren Kindern und Kindeskindern keine Ausnahme im Vergleich zu seinen antisemitischen Ahnen. Heinz Knoblochs „Herr Moses in Berlin“, 1979 erstmals erschienen, sei naiven Friedrich-Gläubigen immer noch eindringlich zur Lektüre empfohlen.
Preußen musste erst am Rande des Abgrunds stehen, ehe es bereit war, seine inneren Verhältnisse zu ändern. Und erst das allerletzte Edikt des als Stein-Hardenbergsche Reformen bekannt gewordenen Gesetzgebungspaketes betraf die Juden: Am 11. März 1812 trat das „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ in Kraft. Gerne wird es „Emanzipationsedikt“ genannt. Es betraf aber nur die zum Zeitpunkt des Erlasses in Preußen lebenden Juden. Die in den im Tilsiter Frieden von 1807 abgetrennten Gebieten Lebenden blieben ausgeschlossen, ebenso die jüdischen Bewohner der Gebiete, die durch den Wiener Kongress zu Preußen kamen. Jener diskriminierende Zustand dauerte bis 1869 an. Erst dann erzwang ein entsprechendes Gesetz des Norddeutschen Bundes die „Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht“. 1871 galt das dann in ganz Deutschland.
Aber bereits im Herbst 1916 zeigte der dünne Emanzipationslack tiefe Risse: Die in jenen Monaten im deutschen Heer durchgeführte „Judenzählung“ – 100.000 Juden dienten während des Krieges an allen Fronten, viele als Kriegsfreiwillige; 12.000 von ihnen starben den „Heldentod“ – machte auch den nationalkonservativsten unter ihnen klar, dass sie einfach nicht „dazugehören“ sollten. Das Ende ist bekannt.
Aber was sind Zahlen, was sind Namen, wenn man nicht um die Geschichten weiß. Anlässlich des 200. Jahrestages des „Emanzipationsediktes“ legten Irene A. Diekmann und Bettina L. Götze ein Buch vor, das die jüdische Geschichte Brandenburgs mit der einer seiner Familien verschränkt: Es ist die Geschichte der Familie Levin aus Rathenow an der Havel, die 1812 den Namen Lesser angenommen hatte. Der eine Vielzahl von schriftlichen und bildlichen Dokumenten enthaltende Band zeichnet sich dadurch aus, dass er Familiengeschichte förmlich mit den Händen greifbar macht. Wie war das eigentlich, wenn ein Jude vor 1812 ein Haus bezahlen musste, das er rein rechtlich gesehen gar nicht erwerben durfte? Wie äußerte sich konkret der Neid einer Krämergilde oder Handwerkerinnung auf einen wirtschaftlich vermeintlich erfolgreicheren Konkurrenten? Die vielen kleinen, von den Autorinnen dargestellten Bösartigkeiten erschrecken noch heute. In der Folge konzentrieren sie sich in ihrer Darstellung auf drei Familienmitglieder, die zumindest in der regionalen Kulturgeschichte Überdurchschnittliches leisteten.
Da ist zunächst Ludwig Lesser (1802 bis 1867), bis zu seinem Tode erfolgreicher Mitarbeiter im Berliner Bankhaus Mendel Oppenheim. Bekannt wurde er jedoch durch sein Wirken in der 1792 gegründeten „Gesellschaft der Freunde“, deren Mitgliederverzeichnis – so die Autorinnen – sich „wie das Who is who der geistigen und wirtschaftlichen Elite“ Berlins lesen würde. 1835 wurde Lesser Sekretär der Gesellschaft. Ludwig Lesser wurde aber auch 1827 Gründungsmitglied der literarischen Gesellschaft „Tunnel über der Spree“. Der „Tunnel“ bestimmte über 70 Jahre das literarische Leben Berlins. Bekannte Namen wie Paul Heyse, Emanuel Geibel, Adolph (von) Menzel und Theodor Fontane gehörten zu ihm. Fontane setzte dem „Tunnel“ in „Von Zwanzig bis Dreißig“ (1898) ein literarisches Denkmal. Ludwig Lesser wird von ihm verschwiegen. Ludwig Geiger nennt diesen allerdings „die eigentliche Seele des Vereins“. Ein Philosemit war Fontane offenbar nicht. Für Lesser allerdings „gab es keinen Widerspruch zwischen […] Deutschtum und […] Judentum.“ Im Buch wird dies auf eine gut nachvollziehbare Weise anhand des Engagements Ludwig Lessers für die Jüdische Reformgemeinde nachgewiesen.
Der zweite wesentliche Protagonist des Buches ist Richard Lesser (1839 bis 1914). Dieser war Buchhändler, vertrieb „gesundheitsdienliche Präparate und Gegenstände“ einschließlich einer „gesundheitspflegerischen“ Zeitschrift – und landete schließlich als Redakteur der Deutschen Kolonialzeitung beim Deutschen Kolonialverein, einer nun nicht unbedingt in die progressive Linie deutscher Geschichtstradition gehörenden Vereinigung. Als junger Mann glühte Lesser aber offenbar für die polnische Freiheitsbewegung. Im Dezember 1884, er arbeitete zu dieser Zeit für den Kolonialverein, gaben Richard Lesser und seine Frau auch das Reformjudentum auf und traten zum Protestantismus über. Diekmann und Götze schildern ausführlich die inneren Nöte Lessers in dieser Situation und schlussfolgern, „dass die Emanzipation und alle in der Verfassung verbrieften Rechte in der Realität eben nicht durchgesetzt waren und die Option des Übertritts vielleicht die einzige war, die gesetzten Grenzen zu überwinden.“
Dass dieses „Entreebillett“ – wie Heinrich Heine es bezeichnete – letztendlich ohne Wert war, stellen die Autorinnen an der Biographie Ludwig Lessers (1869 bis 1958), des ältesten Sohnes Richards, dar. Der war nach Mitteilung der Autorinnen der „erste freischaffende ‚ausschließlich planerisch und beratend tätige Gartenarchitekt in Deutschland’“. Lesser gestaltete unter anderem die Gartenstadt Berlin-Frohnau und gab, sozusagen als Krönung seines Lebenswerkes, Saarow-Pieskow am Scharmützelsee seine den Ort noch heute prägende Gestalt. Ludwig Lesser war einer der wichtigsten Verfechter des Volkspark-Gedankens in Berlin. 1933 gerät auch Lesser in das Räderwerk der faschistischen Judenverfolgungen. Sein Amt als Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft – die ihn bis heute nicht rehabilitiert hat – musste er niederlegen. Beinahe in letzter Minute gelang ihm und seiner Frau Anna im Frühjahr 1939 die Flucht nach Schweden. Ludwig Lesser starb als schwedischer Staatsbürger.
Das Buch von Irene A. Diekmann und Bettina L. Götze gehört sicher nicht zu den großen Standardwerken über die Geschichte des deutschen Judentums. Seine solide recherchierte, mitunter mikroskopisch genaue, aber dennoch von Warmherzigkeit gegenüber den untersuchten Biographien gekennzeichnete Darstellung macht es wertvoll. Es lässt den Leser in tiefer Nachdenklichkeit zurück. Dem Verlag ist für die noble Ausstattung zu danken.
Irene A. Diekmann / Bettina L. Götze: Vom Schutzjuden Levin zum Staatsbürger Lesser. Das preußische Emanzipationsedikt von 1812, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2012, 168 Seiten, 19,95 Euro
Schlagwörter: Antisemitismus, Berlin, Bettina L. Götze, Emanzipationsedikt, Irene A. Diekmann, Juden, Lesser, Verlag für Berlin-Brandenburg, Wolfgang Brauer