von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Eric Hobsbawm ist am 1. Oktober diesen Jahres im hohen Alter von 95 Jahren verstorben. Die Feuilletons im internationalen Blätterwald sind voll des Lobes für Hobsbawm als Meister der historischen Darstellung und Analyse. Zugleich schwingt in einigen Nachrufen die Vermutung mit, dass mit diesem groβen marxistischen Jahrhundert-Historiker auch ein Zeitalter und eine Utopie entgültig zu Grabe getragen wird. Die Welt beispielsweise titulierte ihre Würdigung Hobsbawms mit den Worten Ein Fossil aus der Tiefe des zwanzigsten Jahrhunderts und selbst der linksliberale Freitag beschreibt den Verstorbenen als letzten groβen marxistischen Gelehrten. Ein groβer marxistischer Gelehrte war Eric Hobsbawm ohne Frage, doch bleibt offen, ob die Charakterisierung als letzter und Fossil mehr Wunschdenken als Wirklichkeit ist. Es gibt zumindest ebenso gute Gründe, in ihm auch einen unabhängigen Marxisten für das 21. Jahrhundert zu sehen, als Orientierung gerade für neu heranwachsende Generationen undogmatischer linker Historiker.
Historiker schreiben über die Vergangenheit. Ihre Leser aber leben in der Jetzt-Zeit und natürlich in der Zukunft. Nicht alle gegenwärtig geschätzten Historiker werden über ihren direkten Einflussbereich hinaus auch in der Zukunft beachtet werden. Bei Eric Hobsbawm, dem wahrscheinlich einflussreichsten Historiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kann man sich allerdings recht sicher sein, dass er so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird. Denn Hobsbawm war nicht nur ein groβer Historiker, sondern auch ein begabter Schriftsteller. Er konnte gleichermassen ein wissenschaftliches Fachpublikum als auch historisch interessierte Laien auf hohem Niveau ansprechen.
Hobsbawm hat sich bis zuletzt als kritischen Marxisten gesehen. Doch diese Selbstidentifizierung fungierte für ihn nicht als religiöses Bekenntnis, sondern Ansporn zum Hinterfragen aller angeblich ewigen Wahrheiten, auch der marxistischen – im Sinne von Karl Marx und dessen Lieblingsspruch de omnibus dubitandum – an allem ist zu zweifeln. Marxismus stellte für Hobsbawm eine kritische analytische Methode dar, die wichtige Fragen aufwirft aber keinesfalls auf eine allwissende Formelsammlung reduziert werden darf. So kann man Mario Keßler durchaus beipflichten, wenn er in Zeitgeschichte-online betont, dass Hobsbawms groβe Bedeutung als Sozialhistoriker in seiner gegenüber dem traditionellen Marxismus weitaus flexibleren Interpretation der geschichtlichen Wirklichkeit lag und liegt.
Eric Hobsbawm forschte, lehrte und schrieb über eine sehr breite Themenpalette mit Tiefgang, Detailkenntnis und Brillianz. Arbeitende Menschen, ausgebeutete und marginalisierte Gruppierungen, Schichten und Klassen, Rebellen aller Art gerieten in sein analytisches Visier. Welch anderer Historiker konnte so scharfsinnig über Räuber, Banditen und Piraten schreiben und zugleich auch über die industrielle Revolution und Jazz-Musik. Jazz war übrigens eine Leidenschaft von Hobsbawm, der vor seiner Professur und Weltruhm gelegentlich als Jazz-Journalist arbeitete. Linke Wissenschaftler, die zu ihren Überzeugungen stehen, haben es selten einfach im traditionellen Wissenschaftsbetrieb und so wurde auch Eric Hobsbawm erst mit 54 Jahren festangestellter Professor am Londoner Birkbeck College. Hobsbawm verstand, als Marxist mehr leisten zu müssen in puncto Qalität und Quantität als die meisten seiner Kollegen. Seine Bücher finden sich in Regalen auf der ganzen Welt. Selbst unsere kleine Universitätsbiliothek an der State University of New York im amerikanischen Kleinstädtchen Potsdam verzeichnet 18 Hobsbawm-Bände.
Hobsbawms universelle Gelehrsamkeit, sein tief beeindruckendes und bis weit in konservative Kreise respektiertes Werk etablierten ihn als universell geschätzten und unabhängigen marxistischen Historiker. So schreibt der dezidiert konservative Historiker Niall Ferguson in seinem Nachruf, wie er über alle weltanschaulichen Unterschiede hinweg den unverbesserlichen marxistischen Kollegen hoch schätzt, in wissenschaftlicher wie auch menschlicher Hinsicht. Hobsbawms vier Werke über das 19. und 20. Jahrhundert (The Age of Revolution, 1962; The Age of Industry, 1975; The Age of Empire, 1987 und schlieβlich The Age of Extremes, 1994) sind, so Ferguson, nach wie vor die besten Bücher über diese zwei Jahrhunderte in englischer Sprache. Vor ein paar Tagen bemerkte ein Kollege mir gegenüber, dass man seinen Studenten eigentlich gar keine andere Lektüre zur Einführung zu empfehlen braucht. Bei Hobsbawm findet man genug Material, um sich damit auf Jahre hinaus höchst produktiv auseinandersetzen zu können.
Allerdings hatte Eric Hobsbawm nicht nur Freunde. So wütete das Gossen-Blatt Daily Mail, dass der streitbare Gelehrte angeblich Groβbritannien hasste und Stalin sowie auch Hitler glorifizierte, ja vielleicht sogar als Spion für die verblichene Sowjetunion sein Unwesen trieb. Leider sind zahlreiche britische Massenzeitungen auf noch niedrigerem Niveau als die BILD-Zeitung, was schon einiges heiβt. Die Daily Mail spielte in ihrer demagogischen Art auf Hobsbawms lange Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei an, ohne sich um das wie und warum zu scheren. Die Katastrophen des 20. Jahrunderts haben den im Revolutionsjahr 1917 in Alexandria geborenen und aus einem jüdisch-bürgerlichen Elternhaus stammenden Eric Hobsbawm in die kommunistische Bewegung geführt, angesprochen von der Utopie einer sozial gerechten Gesellschaftsordnung sowie dem Antifaschismus der Kommunisten. Von Alexandria führte sein Lebensweg nach Wien, Berlin und schlieβlich London. In Berlin erlebte er, nachdem er schon vorher beide Eltern verloren hatte, noch die ersten Monate des Nazi-Terrors. In diesem Zusammenhang kann Hobsbawms Parteizugehörigkeit auch als Suche nach Geborgenheit gedeutet werden. Anpassen an die selbstherrliche und dogmatische sowjetische Linie konnte er sich allerdings nicht, obgleich er trotz immer gröβerer Skepsis der Partei bis zu ihrem und der Sowjetunions Ende formal die Treue hielt. Eric Hobsbawms Bücher waren trotz seiner KP-Mitgliedschaft im sowjetischen Machtbereich nicht wohlgelitten. Er hielt allerdings Kontakt zu Wissenschaftlern jenseits des Eisernen Vorhangs, besonder zu kritischen Geistern wie Jürgen Kuczynski, Fritz Klein und Stefan Hermlin. Das legendäre DDR-Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte druckte einige seiner Beiträge und Eric Hobsbawm wurde schliesslich auch offiziell als auswärtiger und beratender Mitarbeiter genannt. Über das Ende der DDR hinaus schätzte er diejenigen Historiker, die sich nicht vom plakativen Marxismus-Leninismus vereinnahmen lassen hatten. Mir gegenüber erwähnte Hobsbawm besonders Helga Nussbaum und ihr ausgezeichnetes Buch Unternehmer Gegen Monopole als Beispiel ernsthafter marxistischer Geschichtswissenschaft.
Als ich das erste Mal mit Eric Hobsbawm sprach, war ich pitsch-nass. Ich forschte damals als Gastwissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in London. Von einem Bekannten erhielt ich die Telefonnummer des nimmermüden Gelehrten. Ich wollte einen Interview-Termin mit ihm vereinbaren, war aber recht geknickt, als ich nur seinen Anrufbeantworter erreichte. Wohl wissend, wie beschäftigt und gefragt Hobsbawm war, erwartete ich nicht ernsthaft einen Rückruf und ging unter die Dusche. Plötzlich klang das Telefon und Eric Hobsbawm informierte mich, dass er gerade London für eine längere Vortragsreise verlassen müsse. Ich könne ihn daher jetzt nicht besuchen, aber sehr wohl sofort meine Fragen am Telefon stellen. So interviewte ich also einen der bedeutensten Historiker – neben meinen zahlreichen Fragen zugleich damit beschäftigt, nach einem Handtuch zu suchen. Jahre später hatte ich die Gelegenheit, Eric Hobsbawm in seinem Haus zu besuchen – diesmal trocken und bekleidet. Er freute sich sichtlich, neben dem Englischen oft ins Deutsche wecheln zu können und beeindruckte mich sehr mit seiner Mischung aus Zugänglichkeit, kosmopolitischer Weitsicht und Kultur. Hobsbawms vorläufig letztes Buch, Reflections on Marx and Marxism, endet mit der Aufforderung, nun, nach dem Scheitern sowohl des Real-Sozialismus, des neo-liberalen Kapitalismus und des kapitalistischen Sozialstaates Marx endlich wieder ernst zu nehmen. Ich freue mich schon auf sein letztes Buch, welches unter dem Titel Fractured Spring im Frühjahr 2013 herauskommen soll. Denn Eric Hobsbawm ist zwar gestorben, aber er ist nicht tot.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Eric Hobsbawm, Geschichtswissenschaft, Marxismus