Eugen Ruge und Rainer Land im Gespräch*
Rainer Land (R.L.): Mein Interesse an Eugen Ruges Roman1 betrifft die Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen, die sich auf jeweils unterschiedliche Art mit den Gegebenheiten der DDR, ihrer Vorgeschichte, ihrem Gründungsmythos und ihrer möglichen oder unmöglichen Zukunft auseinandersetzten. Jede Generation formt ihre Identität in Auseinandersetzung und in Abgrenzung zu den vorgefunden Codes ihrer Elterngeneration – und knüpfte dadurch auch an die der Eltern an. Diese These haben Ralf Possekel und ich versucht, in zwei wissenschaftlichen Arbeiten auszuführen, die sich mit den Diskursen von Bürgerbewegung und SED-Reformern befassten.2 Auf eine faszinierende Weise findet sich das Grundmuster dieses Generationendiskurses auch in Eugen Ruges Roman.
Die älteste Generation wird im Roman von Wilhelm und Charlotte Powileit, geschiedene Umnitzer, verkörpert. Charlotte ist die Mutter der Söhne Werner und Kurt Umnitzer. Werner ist in der Sowjetunion im GULAG ums Leben gekommen, Kurt lebte erst als Häftling im Lager und nach Stalins Tod als ewig Verbannter in einer sowjetischen Stadt jenseits des Urals, heiratet Irina und kehrt 1956 nach Deutschland, genauer, in die inzwischen gegründete DDR zurück. Kurt und Irina verkörpern die zweite Generation, die Aufbaugeneration, aber sie bringen das Wissen über die stalinistische Sowjetunion, das Wissen über den Staatsterror, die Sklavenarbeit im GULAG und den massenhaften Tod unschuldiger Menschen aus Sibirien in die DDR mit.
Zur ältesten Generation gehört noch Nadjeshda Iwanowna, die Mutter von Irina und in gewisser Weise das Gegenstück zu Wilhelm und Charlotte. Ihr Leben war eine Leidensgeschichte der Verfolgung und Vertreibung, die sie als unabänderliches Schicksal ertragen hat; zäh rang sie viele Jahrzehnte ums Überleben, ohne je aufsässig zu werden. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in der DDR, hatte ein Zimmer im Haus von Kurt und Irina in Potsdam und ein Gurkenbeet im Garten. Sie staunte über den Luxus in der ihr unverständlichen Umgebung und vermutete, dass sie irgendwo nicht weit von Amerika sein muss.
Die jüngere Generation wird von Alexander Umnitzer verkörpert, dem Sohn von Kurt und Irina, der im Laufe des Geschehens zunehmend in Konflikt mit den vorgefundenen Umständen in der DDR und dadurch auch mit seinen Eltern, vor allem dem Vater, gerät. Schließlich sind noch wichtig Melitta Umnitzer, eine der Frauen von Alexander, und deren gemeinsamer Sohn Markus, sowie ihr späterer Lebenspartner Klaus, der in der DDR Pfarrer war und nach der Wende Politiker wurde.
Markus hat keine Beziehung mehr zu den Auseinandersetzungen der Eltern und Großeltern, hier bricht der Generationen-Diskurs ab. Verloren zwischen den Konflikten der Zeit und denen seiner Eltern und Großeltern findet er keinen Anschluss und keinen Sinn. Man weiß nicht, was aus ihm werden soll.
Hintergrund dieser Familiengeschichte ist der Niedergang einer sozialen Bewegung, die im 19. und 20. Jahrhundert als Bewegung zur Befreiung der arbeitenden Klassen entstand, sich dann aber in einer nur schwer zu verstehenden Weise ins Gegenteil verkehrte, was zu einer der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dem Stalinismus, führte. Diese Katastrophe wirkt wie ein Verhängnis noch Jahrzehnte fort, auch weil sie verdrängt und verschwiegen wurde und weil eine öffentliche Auseinandersetzung darüber vor 1989 fastnicht möglich war. In der DDR wurde jedem, der dies versuchte, der Mund verschlossen.
Eugen Ruge, wie kommt es, dass die ältesten Romanfiguren, Wilhelm und Charlotte, wussten, was unter Stalin geschehen war, beide aber trotzdem scheinbar ohne Zweifel an ihren kommunistischen Idealen festhalten?
Eugen Ruge (E.R.): Zunächst einmal ist dies verschieden bei den beiden. Bei Charlotte ist die Nähe zur Idee des Kommunismus erst einmal deutlich geringer. Sie stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und war als Frau benachteiligt – ihr Bruder durfte studieren, sie nicht. Durch die kommunistische Partei erhielt sie die Möglichkeit, sich zu bilden, Fremdsprachen zu erlernen, politische Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Damit begann für sie ein zweites Leben, das zugleich das Leben mit Wilhelm, ihrem zweiten Mann war. Sie hungerte nach Bildung und sozialem Aufstieg, wollte – negativ ausgedrückt – Karriere machen, positiv gesagt: eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen. Das ist die eine Erklärung, warum sie der Sache treu bleibt. Aber es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt. Zur Psychologie dieser Figur gehört, dass sie ihren Sohn Werner geopfert hat. Dieser Verlust, über den sie lebenslänglich nicht sprechen konnte, bringt sie nicht in Distanz, sondern bindet sie eher an die Partei. Der Opfer-Gedanke zieht sich durch das ganze Buch, zum Beispiel in ihrer Ehrfurcht vor dem aztekischen Opfer-Kult. Sie erklärt ihrem Enkel, dass sich einer opfern muss, damit die anderen weiterleben können. Eine Abkehr von der Partei würde das Opfer sinnlos werden lassen. Durch den toten Sohn ist sie untrennbar mit der Parteigeschichte verbunden.
Bei Wilhelm ist es einfacher. Er kommt aus proletarischen Verhältnissen, hat sich der Partei verpflichtet und bleibt dabei – eisern und trotz des Wissens. Wilhelm und Charlotte wissen Einiges, aber sie wissen nicht alles. Die Exilanten in Mexiko wussten nicht so viel wie die, die aus Moskau in die DDR zurückkehrten. Die aber sprachen oft nicht darüber.
Wilhelm ist bis zum Ende jemand, der sagt: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Vielleicht sind ein paar Köpfe zu viel gerollt, aber besser einer zu viel als einer zu wenig. Das ist eine Haltung, die ich durchaus kenne.
R.L.: Wilhelm ist ja in einige der katastrophalen Geschehnisse der Arbeiterbewegung aktiv verwickelt, beispielsweise die Bündnisse mit den Nazis im Kampf gegen die Sozialdemokratie. Es ist die Figur, die ich am wenigsten verstehe. Wie kann man einer emanzipatorischen Bewegung angehören und zugleich so funktionieren, dass man alles an Unterdrückung anderer mitmacht, was die Partei verlangt, ohne das Gefühl, da könnte doch etwas falsch sein?
E.R.: Ich habe versucht, diese Haltung in der Szene auf seiner Geburtstagsfeier darzustellen. Da singt er das Lied: Die Partei, die Partei, die hat immer recht, denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht… Das ist die Schlüsselzeile und das ist sein Credo. In dem Roman habe ich versucht, dies als die Perspektive Wilhelms darzustellen. Er war jemand, der das ernst genommen hat. Für die Romanfigur Kurt war das der Gipfel des Irrsinns.
R.L.: Kommen wir zu Kurt. Wie verhält sich die Romanfigur zu Ihrem Vater Wolfgang Ruge? Von ihm gibt es ja neben wissenschaftlichen Texten zu Lenin und zum Stalinismus auch einen autobiographischen Bericht über seine Zeit in der stalinistischen Sowjetunion und im GULAG.3 Er schildert, wie der Hunger als Mittel benutzt wurde, die Leute zur Arbeit zu zwingen und dass die Mehrzahl dabei starb. Er reiste 1956 nicht ohne Bauchschmerzen in die DDR, weil er vermutete, dass das stalinistische Regime auch die SED und die DDR nachhaltig geprägt haben könnte. Im Roman – und vielleicht auch im wirklichen Leben – aber war er jemand, der die DDR zwar gern anders gehabt hätte, aber er wendete sich nicht ab. Glaubte er, dass man diese sozialistische Gesellschaft doch noch zum Funktionieren bekommen könnte?
E.R.: Immer weniger. Die Schlüsselszene ist auch hier Wilhelms Geburtstagsfeier. Er sitzt da und klatscht Beifall, während in seinem Kopf die Gedanken ablaufen: Wie verrückt das alles ist. Hier ist die Figur Kurt der Biographie meines Vaters sehr ähnlich. Er kehrt 1956 aus der Sowjetunion zurück. Das hat mit dem XX. Parteitag, der beginnenden Entstalinisierung zu tun. Und er glaubt, dass man nun beginnen kann, einen wirklichen und einen demokratischen Sozialismus aufzubauen. Mein Vater hat die Entartung des Sozialismussehr stark mit der Person Stalins verbunden. Der Stalinismus ist aus seiner Sicht keine notwendige Konsequenz aus Marxismus und Sozialismus. Ich habe gerade das Buch von Baberowski Verbrannte Erde4 gelesen. Das Buch und dessen These hätte mein Vater wahrscheinlich sehr begrüßt. Er hat geglaubt, der Stalinismus sei mit der russischen Geschichte und der konkreten Person Stalins verbunden und diese Entwicklung sei reversibel. Und tatsächlich hat es diese konkrete stalinistische Herrschaftsform ja nach Stalins Tod so nicht mehr gegeben. Diesen Unterschied muss man machen.
Aber mein Vater ist zunehmend daran verzweifelt, dass der Sozialismus so demokratisch, wie er ihn sich gewünscht hat, nicht geworden ist. Wir haben ja die merkwürdige Erfahrung gemacht, mehrfach in der Geschichte: Sobald der Sozialismus reformiert wird, sobald Demokratie eine Rolle spielt, sobald die Leute wählen können, wählen sie den Sozialismus ab. Das ist eine wiederkehrende Erfahrung.
R.L.: Kurt hatte in der DDR eine Zukunft, konnte arbeiten und ganz gut leben. Wenige Jahre vorher, in der Lagersituation auf ewig verbannt, schien dies alles unvorstellbar. Trotzdem hat er die Zustände in der SED und der DDR innerlich abgelehnt. Es gibt eine Szene mit einer Parteiversammlung am Akademieinstitut, wo ein anderer Kollege wegen eines Artikels gemaßregelt wird. Da werden dann die Parteimitglieder der Reihe nach aufgefordert, Stellung zu nehmen – mit anderen Worten: sie sollen den Gemaßregelten verurteilen und seine Bestrafung gutheißen. Kurt soll auch Stellung nehmen, er steht auf, weiß nicht, was er machen soll, und sagt schließlich: „Ich hab noch gar nicht richtig verstanden, … hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken…“ Er macht das Spiel nicht mit, will nicht zu denen gehören, die dem zu Unrecht Gemaßregelten noch einen Tritt geben. Trotzdem steigt er nicht aus.
E.R.: Kommunismus kam ja über meinen wirklichen Großvater, Erwin Ruge, in meine Familie, der aus dem Bildungsbürgertum stammte und Oberstudienrat war. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg und kam als Kommunist aus dem Krieg zurück, weil er dieses Gemetzel nie mehr erleben wollte. Für ihn waren der Marxismus und der Kommunismus das Mittel, Kriege aus der Welt zu schaffen. Er las Marx und marxistische Literatur, brachte den Kommunismus in die Familie, erzog seine Söhne entsprechend. Dieser Erwin emigrierte mit seinen Söhnen in die Sowjetunion, wurde aber dann von seinen Genossen ins faschistische Deutschland zurück ausgewiesen. Er hat daraufhin dem Kommunismus wieder abgeschworen: So nicht. Seine Söhne aber, die den Kommunismus sozusagen mit der Muttermilch bekommen hatten, fiel die Trennung viel schwerer. Meinem Onkel Walter besonders. Mein Vater war sehr kritisch, wurde immer kritischer und unglücklicher mit der Situation. Aber er wurde es nicht los. Kapitalismus war keine Lösung. Mit dem Herzen blieb er bei den Idealen seiner Kindheit. Mein Großvater wurde erst als Erwachsener Kommunist und wendete sich später wieder ab, mein Vater eben schon als Kind, und der blieb dabei.
R.L.: In der Szene mit der verunglückten Weihnachtsfeier gibt es einen Streit zwischen Kurt und Alexander. Der eine verweist auf die zwei Milliarden hungernde Menschen in der Welt, der andere auf die Toten des Stalinismus. Bemerkenswert finde ich an dieser Szene, dass der Sohn, Alexander, diese Bindung des Vaters an Sozialismus oder Kommunismus und an die DDR überhaupt nicht oder nicht mehr hat. Man hätte doch glauben können, dass er ein positives Verhältnis zur DDR der 1970er und 1980er Jahre haben sollte. Er ist in der DDR aufgewachsen, in einer Zeit, in der es keine Kriege, keinen stalinistischen Staatsterror und keine existenzielle Bedrohung gegeben hat und in der man eigentlich ganz gut leben konnte.
Mir ist an meiner eigenen Lebensgeschichte aufgefallen, dass ich in meiner Kindheit und Jugend ein recht ungetrübtes Verhältnis zur DDR, zur Schule und auch zu meiner polischen Umwelt hatte, auch wenn mein Vater immer wieder mal gemeinsam mit meinem Großvater auf Honecker schimpfte. Bis zu meinem 17. Lebensjahr glaubte ich, dass alles gut ist und besser werden wird und dass die erkennbaren Fehler Kleinigkeiten sind, die man überwinden wird. Meine Auseinandersetzung begann erst 1968 mit dem Unverständnis über das gewaltsame Ende des Prager Frühlings, noch mehr aber mit eigenen Konflikten in der Schule, wo man unsere Wandzeitung mit kritischen Meinungsäußerungen über unsere Schule über Nacht entfernte und uns von der Schule werfen wollte. In den 1970er Jahren wuchs mein Unbehagen, in den 1980ern nahmen Konflikte zu und erzwangen etwa 1986 einen Positionswechsel. Dann ließ die Perestroika auf Veränderung hoffen.
Meine Schwester, die zehn Jahre später geboren wurde und daher erst in den 1970er Jahren in die Schule ging, hatte wie die Mehrheit ihrer Mitschüler von Anfang an eine Distanz: In der Schule sind wir immer belogen worden, und das wussten alle, auch die Lehrer. Für diese Altergruppe war das von Staat und in der Schuleeingeforderte Bekenntnis zu Sozialismus und DDR von Anfang an unglaubwürdig und falsch, ein Lippenbekenntnis. Sie erlebten die DDR zwar nicht als Ort des Unglücks und des Elends, aber sehr wohl als einen Ort des falschen Scheins, wie im Märchen Des Kaisers neue Kleider. Der Glaube an die bessere Gesellschaft oder zumindest die Hoffnung, man könne die Entwicklung doch noch dahin wenden, den hatte noch die Gründergeneration – unsere Väter und Mütter, aber die Kinder, in der DDR geboren und aufgewachsen, hatten diese Hoffnung nicht oder verloren sie als Jugendliche oder junge Erwachsene – häufig in der 1970er Jahren, z.B. nach der Biermann-Ausbürgerung. Dies, scheint mir, drückt der Konflikt zwischen Vater Kurt und Sohn Alexander aus, der an jenem Weihnachtsabend eskaliert.
E. R.: Ich gehöre ja in die gleiche Altersgruppe wie Sie. Warum diese starke Ablehnung? Zunächst einmal: Das sind gar nicht meine Argumente, auch wenn ich das reale Vorbild für die Figur des Alexander bin. Ich habe die Romanfigur deutlich von mir weggerückt, in vieler Hinsicht, auch um Konfliktpotenzial zu haben, Standpunkte deutlicher zu polarisieren. Wenn Standpunkte zu nahe beieinander sind, entsteht keine Dramatik.
Aber davon einmal abgesehen: Für mich ist die Situation, die Sie von Ihrer Schwester später beschreiben, früher eingetreten, weil mein Vater im Lager, im GULAG, war und weil ich das wusste. Ich wusste es immer, weil mein Vater das nicht verschwiegen hat. Das wäre ja auch schwierig gewesen – wir haben die Oma besucht in diesem Dorf in Sibirien und da entstanden notwendigerweise Fragen: wo komme ich her, warum bin ich hier geboren, warum sind wir weggegangen. Bei uns wurde damit offen umgegangen. Ich wusste, dass es dort unglaubliche Verbrechen gegeben hat, die in der Schule mit keiner Silbe erwähnt wurden, sondern nur die großartigen Errungenschaften der Sowjetunion. Soviel zum Stichwort Lügen in der Schule. Das schafft Distanz. Ich habe darunter gelitten, denn eigentlich wollte ich dazu gehören. Man möchte sich beteiligen, ich war nicht glücklich mit dieser Distanz, habe mich oft sehr einsam gefühlt.
Trotzdem empfinde ich meine Kindheit und sogar die Schule als eine glückliche Zeit. Ich hatte in der DDR ein schöne Kindheit und Jugend. Das hat viel mit meinen Eltern zu tun.
R.L.: Vielen fällt es schwer, zwischen der oft positiv empfundenen eigenen Lebenssituation und einer objektiven Beurteilung gesellschaftlicher Umstände zu unterscheiden. Glücklich zu sein und eine reiche Lebenswelt zu haben, bedeutet nicht automatisch, dass auch die gesellschaftlichen Verhältnisse funktions- und zukunftsfähig sind.
E.R.: Man muss auch ertragen, dass die Dinge widersprüchlich sind, sonst wird es Ideologie. Meine Gefühle gegenüber der DDR waren widersprüchlich, sind es bis heute, bewegen sich ständig. Dies ist nicht abgeschlossen, weshalb ich auch immer wieder unsicher bin, wie ich bestimmte Dinge beurteilen soll. Das ist auch ein Grund für die Struktur des Romans. Ich habe mich als Autor zurückgehalten und die Haltungen der Figuren gelten lassen. So entstehen verschiedene Perspektiven und der Ton der einzelnen Figuren, die ich einfach nebeneinander stelle. Niemand hat letztlich Recht. Wenn Sie so wollen, ist das auch Ratlosigkeit.
R.L.: Kommen wir zur jüngsten Generation. Markus, der Sohn von Alexander und Melitta, wird das erste Mal ausführlicher beim Besuch des Urgroßvaters als Zwöfjähriger dargestellt. Er empfindet die Geburtstagsgesellschaft als eine Art Panoptikum: Saurier, Fossilien nicht nur als Präparate im Regal, sondern auch lebend als Geburtstagsgäste am Tisch. Die anderen Personen, vor allem Wilhelm, Charlotte und die russische Urgroßmutter betrachtet er aus einer völlig eigenen und abgetrennten Perspektive. Seine Deutung der Personen, seine Ab- oder Zuneigungen haben nichts mit den Codes aller anderen handelnden Personen zu tun, und das liegt nicht nur am Alter. Er ist wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Vor allem deshalb reißt wohl später der Faden zur Mutter, zum Lebensgefährten der Mutter und zu den Großeltern.
Dann gibt es eine zweite Szene als Jugendlicher oder schon junger Mann. Da spielen Frauen, Drogen, Musik, Partys eine Rolle. Aber man hat den Eindruck völliger Haltlosigkeit. Und es gibt keinen diskursiven Zusammenhang zu den Generationen der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Es ist kein absichtsvoller Bruch, seine Identitätskonstruktion ist keine Abgrenzung von bestimmten Codes der Eltern oder der Großeltern, keine kritische Ablehnung oder Umdeutung, er knüpft einfach nicht an deren Geschichte an, er hat damit nichts mehr zu schaffen.
Im Roman entsteht die Identität der folgenden Generation durch selektive Negation und Umdeutung, also auch durch Anknüpfung der identitätsrelevanten Codes der vorgängigen Generation, also durch die Auseinandersetzung von Kurt mit Charlotte und Wilhelm, die Konfrontation von Alexander mit Kurt und Irina. Beim Verhältnis von Markus zu seiner Eltern- und Großelterngeneration müsste man hingegen vom Abbruch, besser vom Aufhören des Diskurses sprechen, oder?
E.R.: Diese Figur ist sehr stark erfunden, aber natürlich nicht mit dem Ziel, eine These in den Raum zu stellen. Trotzdem würde ich nachträglich sagen: Er gehört dieser Hoyerswerda-Generation an. Er schrammt knapp an faschistischem Gedankengut vorbei. Und man weiß auch nicht, was aus ihm wird. Diese Generation verkörpert den Bruch. Die Wende kracht mitten in seine Pubertät. Es bricht alles zusammen. Die Lehrer in der Schule wissen nicht mehr, was sie sagen sollen, der Mann seiner Mutter, der ein kleiner Pfarrer auf dem Dorf war, sitzt plötzlich im Bundestag. Mit dem versteht er sich nicht, der geht ihm auf den Keks. Die Kernfamilie zerbricht. Er ist völlig haltlos, einer unbestimmten Zukunft ausgesetzt, eine traurige Figur, keine Frage. Aber es ist ja nicht das Ende. Man weiß nicht, wie es ausgeht, nur, dass er es nicht leicht hat. Obwohl er am Diskurs nicht mehr teilnimmt, rächt sich an ihm alles, was vorher stattgefunden hat, er bekommt es zu spüren. Die anderen auch, aber auch er, der gar nicht mehr teilnimmt.
Die erste Generation steht relativ unkritisch zum Sozialismus. Die zweite Generation ist kritisch eingestellt. Die dritte wendet sich ab. Und die vierte, der Markus, hat eigentlich gar nichts mehr damit zu tun – und kriegt es trotzdem ab. Man wird die Geschichte nicht los. Seine Lernaufgabe wäre nun eigentlich, meinen Roman zu lesen, also sich seiner Geschichte anzunehmen und zu verstehen, was ihm passiert ist.
R.L.: Ich hatte unlängst ein glückliches Erlebnis: dass gerade junge Wissenschaftler, die das selbst nicht erlebt haben, beginnen, sich dieser Geschichte anzunehmen. Und übrigens auch von Ihrem Roman angetan waren. Bei den Älteren, uns eingeschlossen, ist ja klar, dass sie davon nie mehr loskommen, ob sie verteidigen, rechtfertigen, anklagen oder aufklären wollen. Aber das Bezaubernde an einigen Arbeiten jüngerer Wissenschaftler ist, dass sie weder denunziatorisch noch nostalgisch noch verklärend an der Geschichte arbeiten. Daher habe ich die Hoffnung, dass der in unserer Generation festgefahrene Diskurs noch mal eine andere Wendung bekommt, die Blockade sich löst und wir durch die nachfolgende Generation klüger werden.
* * *
Dietrich Mühlberg (D.M.): Die vierte Generation irrt umher und weiß nicht weiter. Zum Glück ist die dritte heftig damit beschäftigt, Bücher zu schreiben, so dass man als Angehöriger der zweiten Generation gar nicht mehr nachkommt mit Lesen. Das zeitigt eine Hoffnung: dass es einst von den Enkeln gelesen wird und schließlich doch noch eine Kommunikation zwischen den Generationen zustande kommt. Der Autor ist gefragt worden, warum er erst so spät herausgekommen ist mit seinem Buch. Die Antwort war: Es mussten erst alle tot sein, bevor ich schreiben konnte. Ist dies der Umweg, über den Generationen kommunizieren?
E.R.: Ich habe es erst nachträglich festgestellt. Eine Weile nachdem meine Großeltern gestorben waren, schrieb ich ein Theaterstück, in dem sie die Hauptfiguren waren. Nachdem mein Vater gestorben war, habe ich die ganze Geschichte aufgeschrieben, nun als Roman. Also stelle ich nachträglich fest: Es scheint so zu sein. Die Leute müssen nicht unbedingt tot sein. Aber Sie können über einen Menschen, der Ihnen sehr nahe ist, nur schlecht einen Roman schreiben. Er muss schon ein Stück weg sein, um über ihn schreiben zu können. Entfernung ist nötig, um wirkliche Personen nachzubilden, Wirklichkeit abzuschreiben, aber auch, um eine Figur umzubilden. Ich habe ja die Figuren im Verhältnis zu den wirklichen Personen sehr stark verändert. Erfahrungsgemäß wehren sich lebende Personen in beiden Fällen: Wenn man sie nachbildet wie auch, wenn man sie umbildet. Walter beispielsweise war sauer, dass er im Roman tot ist. Ich hätte ihn symbolisch ermordet! Aber erstens war es gegen die Wahrscheinlichkeit, zwei Brüder das GULAG überleben zu lassen; und zweitens spielt Werner gerade durch seine Abwesenheit eine wichtige Rolle im Roman.
Um ein Beispiel auszuführen: Bei der Romanfigur Kurt habe ich im Verhältnis zu der Person meines Vaters nicht nur einige Daten und äußere Umstände verändert. Das sind Kleinigkeiten. Der Charakter der Figur entstand in mir, als ich ihn als einen Überlebenden dachte, und zwar nicht nur als jemanden, der das GULAG, sondern der auch seinen Bruder überlebt hat . Und er ist ja im Roman indirekt ein wenig mitverantwortlich für dessen Tod. Er arbeitet diese imaginäre Schuld, das Lager überlebt zu haben, während sein Bruder dort gestorben ist, ab, indem er für seinen ermordeten Bruder mitleben will, sogar sexuell für sich und seinen Bruder als Frauenheld doppelt agiert. Er versucht, dessen Tod durch sein Leben auszugleichen, aufzuheben. Daraus entsteht die Identität dieser Figur – und hier unterscheidet sich die Figur natürlich gründlich von meinem Vater, denn dessen Bruder hat das Lager bekanntlich überlebt.
D.M.: Nun aber hat das Publikum das Wort!
Aus dem Publikum (P.): Ich fand das Buch sehr spannend, habe manche Kapitel mehrfach gelesen. Ich bin ein Kind der DDR, bin mit der DDR groß geworden und mit der DDR gefallen. Das Buch hat mich betreten gemacht und stückweise aus der Bahn geworfen. In der DDR als Mechanikerin, Ingenieurin, Parteiarbeiterin wollte ich, dass die DDR verändert wird, aber nicht, dass sie so scheußlich eingeht. Nun haben Sie in dem Buch aber gar nichts Hoffnungsvolles übrig gelassen. Diese Erzählweise hat mich fast umgehauen.
E.R.: Das macht ja nichts. (Lachen) Nein, im Ernst, ich kann Ihnen wenig weiterhelfen. Die DDR ist ja noch glimpflich davongekommen. Es gab keine großen Schauprozesse, es gab nicht Hunderttausende, die ermordet wurden, wie unter Stalin in der Sowjetunion. Die Geschichte des Sozialismus ist eine sehr traurige Geschichte. Das ist Ihnen in der DDR nicht erzählt worden. Auf die Geschichte der Sowjetunion hat man sich ständig berufen, und zwar unter Auslassung des tatsächlichen Geschehens. Es ist Ihnen nicht erzählt worden, dass Millionen unschuldiger Menschen in Lagern zu Grunde gegangen sind, dass Hunderttausende, vielleicht Millionen, erschossen wurden, unter absurdesten Vorwürfen. Das alles ist ja im Grunde noch viel schlimmer. Es wurden Minderheiten ausgerottet und vertrieben, der Krieg gegen die Bauern geführt, es gab ethnische Säuberungen, Millionen sind in Hungersnöten gestorben. Die Geschichte des Sozialismus ist nun mal so traurig, gerade wenn man unterstellt, dass der Sozialismus eigentlich gestartet ist, die Arbeiterklasse und die Menschheit zu befreien. Es waren ja keine Bösewichte, keine schlechten Menschen, die Tod und Verderben über die Sowjetunion bringen wollten. Das kann man vielleicht denken und manche denken auch so. Aber das ist zu einfach.
Der Geschichte des Sozialismus, wenn man die in seiner Familie so komplex erlebt hat, etwas Positives abzugewinnen, ist nicht leicht. Trotzdem habe ich es versucht, glaube ich zumindest. Dass unser Leben lebenswert war und dass es wert ist, weitererzählt zu werden. Dass es Menschen gab, deren Andenken ich bewahren möchte. Für mich ist das ganz positiv. Dass dies von Ihnen negativ empfunden wird, hat mit Ihrer Geschichte und dem, was Sie vorher dachten und glaubten, zu tun.
P.: Ich komme aus dem Westen. Ich finde es kurios, dass Leute in einem Roman Orientierungssuche betreiben wollen. Das Buch ist doch kein Ratgeber, sondern Literatur. Nun kann man auch in Literatur nach Orientierungen suchen, aber man kann es doch dem Autor nicht vorhalten, wenn er nicht die erhoffte Orientierung gibt.
P.: Wie haben denn die westdeutschen Leser das Buch aufgenommen, die den Sozialismus und die DDR gar nicht kannten?
E.R.: Zunächst einmal gab und gibt es ja auch in Westdeutschland eine Linke, die sich mit dem Sozialismus und der DDR beschäftigt hat. Aber abgesehen davon: Die westdeutschen Leser haben natürlich oft Vorurteile, nicht gegen oder für die DDR, sondern ein bestimmtes medial vermitteltes Bild: grau, Mauer, Stacheldraht usw., mal mehr, mal weniger differenziert. Die Erfahrung, die ich mache, ist, dass die Leser eher staunen, was in der DDR so alles stattgefunden hat und dass es da ein eigenes konfliktreiches und daher vielfältiges Leben gegeben hat. Interessant ist, dass die Leute nach meiner Erfahrung nicht daran interessiert sind, ihre Vorurteile zu behalten, sondern eher neugierig und bereit sind, Vorurteile zu überwinden.
Der Verlag hat das Buch auch im Ausland angeboten. Das Buch wurde schon vor Erscheinen in mehrere europäische Länder und in die USA verkauft. Und das war, bevor es den Buchpreis bekommen hat. Daran erkannt man ein deutliches Interesse für das Thema, auch in Ländern, die selbst nicht direkt in die Geschichte des Sozialismus involviert waren.
P.: Wie viele Zuhörer hatten Sie denn auf Lesungen?
E.R.: Ich denke zehntausend. Ich rechne mal: sechzig Lesungen mit durchschnittlich zweihundert Leuten.
P.: Erscheint das Buch auch in Russland? Ist es auch in Osteuropa erschienen?
E.R.: Ganz so schnell geht das nicht. Das Buch ist ja erst ein halbes Jahr alt, normalerweise wartet Osteuropa auf die englischen Übersetzungen. Wir haben jetzt Verträge mit Rumänien und Bulgarien, Tschechien. Russland ist noch nicht dabei. Keine Ahnung, ob es noch dazukommt.
P.: Im ersten Kapitel gibt es die Szene, wo in Bezug auf das Werk Ihres Vaters gesagt wird: „Kannst Du alles verbrennen, ist Makulatur.“ Dabei kann man doch nicht stehen bleiben. Die Bücher Ihres Vaters waren doch ganz wichtige Türöffner für ein anderes Denken in der Geschichtswissenschaft.
E.R.: Das erste Kapitel ist ein sehr schwieriges Kapitel. Das liest man nicht gern und das schreibt man auch nicht so gern. Man muss die folgenden Kapitel lesen, dann ruckelt sich einiges wieder ein. Ich kann ja nicht dafür, dass eine Figur, ein krebskranker Mensch, auf einen Vater trifft, der dement ist und versorgt werden muss. Da passiert dann einiges, gerade wenn man weiß, dass es zwischen den beiden schon immer Konflikte gegeben hat. Dann sagt so jemand: „Was Du geschrieben hast, ist alles Makulatur“. Und der Vater sagt „Ja“, weil er in seinem Zustand zu allem „Ja“ sagt. Das ist höchst ungerecht, nicht nur, wenn man meinen Vater mit Kurt identifizierte, sondern auch, wenn man die Figur Kurt selbst nähme. Aber ich kann ja nicht überall eine Fußnote machen: „Hier ist der Autor nicht dieser Meinung.“ (Lachen) Ich verstehe diese Fragen aber. Wie gesagt habe ich die Figur des Alexander deutlich von mir weggerückt und auch nicht besonders sympathisch gemacht, auch um nicht nachher im Verdacht zu stehen, ich mache alle anderen schlecht und mein Alter Ego strahlt. Ich habe den Alexander etwas unterbelichtet. Die Folgen davon habe ich aber unterschätzt. Ich wusste ja nicht, dass ich den Buchpreis dafür bekomme und alle möglichen Leute zu mir sagen: „Das bist doch Du? Warum sagt Du denn so was, warum bist Du so unsympathisch?“ Also: Ich bin das nicht, ich hab das zu meinem Vater nicht gesagt und es tut mir leid, dass es so gelesen wird. Zum Glück wird es in Paris und New York nicht so gelesen werden, denn die kennen meinen Vater dort nicht.
P.: Ihr Buch ist das Zwiespältigste, was ich in den letzten Jahren gelesen habe – und ich lese sehr viel. Sie können ihr Buch nicht von der Verwertung trennen. Sie sind Buchpreisträger. Kein Klappentext und keine Rezension kommen ohne die Behauptung aus, dass Sie ein Naturtalent sind, das seine Geschichte eins zu eins aufgeschrieben hat. Von dieser Deutung hätten Sie sich mehr distanzieren müssen. Es ist heute das erste Mal, dass ich höre, dass Sie Figuren entwickelt haben.
E. R.: Man schreibt auf das Cover Roman, um genau das auszudrücken. Ich bin über einige Texte von Kritikern auch nicht besonders glücklich. Aber was soll ich denn machen? Beschwerdebriefe schreiben? Was die Kritik schreibt, muss man hinnehmen. Da können Sie gar nichts entgegnen.
P.: Zuweilen wird gesagt, Ihr Buch sei Die Buddenbrooks des 21. Jahrhunderts oder auch des späten 20. Jahrhunderts. Würden Sie sich diesem Urteil anschließen?
E.R.: Das Urteil stammt ja nicht von mir und auch nicht von Alexander Fest, sondern von Iris Radisch. Was soll ich dazu sagen? Dass man auf den Gedanken kommen kann, die Romane zu vergleichen, liegt doch auf der Hand. Es sind beides Familiengeschichten, beide beschreiben den Untergang einer Familie und darüber hinaus einer bestimmten Klasse, einer bestimmten Schicht in einer bestimmten Zeit. Der Vergleich ist nicht vollkommen aus der Luft gegriffen.
Auf der einen Seite ist es selbstverständlich eine große Ehre, mit Thomas Mann verglichen zu werden. Andererseits liegen ja über hundert Jahre Literaturgeschichte zwischen den Büchern. Inzwischen hat sich sehr viel verändert und ich habe vieles ganz anders gemacht als Thomas Mann. Der Umgang mit Chronologie und Perspektive ist ganz anders. Dies wäre bei Thomas Mann ganz undenkbar. Er hat seine Geschichte breit und linear erzählt. Das mache ich nicht. Und es ärgert mich natürlich, wenn dies übersehen wird.
P.: Ist der Vergleich mit Thomas Mann verkaufsfördernd?
E.R.: Also, wenn die Iris Radisch das schreibt, dass der Verlag das dann auf das Cover druckt – nun gut, das ist eben so und es ist als Werbung doch verständlich. Ich schreib ja so ein Buch nicht, um es nicht zu verkaufen. Ich möchte, dass es verkauft wird und dass es möglichst viele Menschen lesen.
P.: Ich habe das Buch als sehr dokumentarisch und als beklemmend empfunden. Das Buch beschreibt, was an Verbrechen herausgekommen ist. Aber was die Dunkelheit erzeugt hat, war keine Geschichte des Sozialismus, sondern der Stalinismus hat den Sozialismus zerstört in den 1930er Jahren. Die Massenmorde damals waren Massenmorde an den Marxisten.
[Zwischenruf von E.R.: Das war nur eine Opfergruppe unter vielen, die meisten waren gar keine politischen Opfer.] Die gesamte Führung der Oktoberrevolution ist umgebracht worden. Das waren Tausende, die der linken Opposition angehörten. Davon ist hier nicht die Rede in dem Buch, deshalb ist am Ende jeder ratlos. Es fehlt die Orientierung. Und solange diese Frage nicht geklärt wird, bleibt die dritte und vierte Generation orientierungslos. Im Stalinismus ist die marxistische Kultur, die die Oktoberrevolution hervorgebracht hat, physisch zerstört worden. Der Aufbau der DDR im Namen des Sozialismus geschah, nachdem diese marxistische Kultur vernichtet worden war. Es gab keine marxistische Opposition. Die Vorstellung, den Sozialismus durch einen Parteiapparat von oben aufzubauen und nicht durch die Werktätigen, hat mit Sozialismus nichts zu tun.
E. R.: Die Idee, den Sozialismus unter Führung einer Partei neuen Typs, einer Partei von Berufsrevolutionären, aufzubauen, stammt von Lenin. Nun will ich die später Ermordeten nicht nachträglich der Oktoberrevolution anrechnen. Aber die Bolschewiki haben die Macht nicht mit breiter Zustimmung des Volkes errungen, sondern in einem Militärputsch erobert und durch Terror gesichert. Die Idee der militärisch organisierten Arbeit und der Arbeitslager stammt von Trotzki. Und von ihm stammt auch der Satz: Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist. Die Geschichte des realexistierenden Sozialismus ist die Geschichte eines langen Abstiegs. Wir müssen uns nicht auf ein bestimmtes Jahr einigen, wann dieser begann. Vielleicht in der 1930er Jahren, ich würde meinen, früher. Wahrscheinlich hatte der Sozialismus, so wie er begann, vom ersten Tag an keine Chance.
Was ich in dem Roman beschreibe, ist die Geschichte eines Untergangs, eines Zerfalls. Deswegen ist es eine traurige Geschichte. Es konnte nur eine traurige Geschichte werden.
* – Redaktionell bearbeiteter Mitschnitt einer Veranstaltung in der Reihe „Kulturdebatte im Salon“ der Kulturinitiative ’89, am 25.4.2012. Moderation Dietrich Mühlberg, redaktionelle Bearbeitung Rainer Land.
Erstveröffentlichung in Berliner Debatte. Initial, Ausgabe 2/2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Rainer Land, Eugen Ruge sowie Initial.
- Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie, Rohwohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011. ↑
- Land, Rainer; Possekel, Ralf (1994): Namenlose Stimmen waren uns voraus. Politische Diskurse von Intellektuellen aus der DDR, Dr. Winkler-Verlag, Bochum 1994. Ders. / Possekel, Ralf: Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren, Ch. Links Verlag, Berlin 1998. ↑
- Ruge, Wolfgang: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2012. Ders.: Lenin, Vorgänger Stalins, Matthes & Seitz, Berlin 2010. Ders.: Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin (DDR) 1991. ↑
- Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2012. ↑
Schlagwörter: Eugen Ruge, Gulag, Rainer Land, Rowohlt Verlag, Stalinismus, Wolfgang Ruge