Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 15. Oktober 2007, Heft 21

Lieber Herr Kárpáti

von Hartmut Pätzke

Aus der Charité hat Franz Fühmann (1922-1984), zwölf Tage vor seinem Tod, eine Postkarte an Paul Kárpáti gesandt, auf der er für die Übertragung der 4. Zeile der 4. Strophe des Gedichts Das Ungeheuer von Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) sieben Vorschläge bereithält.
Paul Kárpáti, 1933 in Györköny (deutsch Jerking) geboren, 1947 aus Ungarn in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands verbracht, begegnete Fühmann erstmals unmittelbar nach Beendigung seines Studiums 1957 als Dolmetscher im Deutschen Schriftstellerverband. Seinen ersten Brief schrieb Fühmann ihm am 20. Dezember 1961, nachdem er in Budapest die Attila-József-Gedenk-Plakette des ungarischen PEN-Clubs erhalten hatte, mit der Bitte um Interlinearübersetzungen zu Miklos Radnóti (1909-1944). Aus den sechziger Jahren ist noch eine Karte von 1964 erhalten, von Fühmanns zweiter Ungarnreise, wo er mitteilte, daß »ich eine erste Fassung der Radnóti-Übertragungen fertighabe und sie gerade mit Kollegen Hajnal durchspreche.« Die Karte trägt auch den Namenszug von Gábor Hajnal (1912-1987), Lyriker und Übersetzer, den Fühmann 1957 in Berlin kennengelernt hatte. Von Fühmann stellte er in der Zeitschrift für Weltliteratur Nagyvilag im Januar 1958 zwei Gedichte in seiner Übertragung vor.
»Von den Briefen aus den sechziger Jahren sind nicht mehr erhalten geblieben, oder noch nicht zum Vorschein gekommen«, teilt Kárpáti in seinem Kommentar mit. Häufig ging Fühmann in den sechziger Jahren in den dritten Stock der Clara-Zetkin-Straße 1 (jetzt wieder Dorotheenstraße), einem bis vor kurzem allein in der Stadtlandschaft stehenden massiven Bau, dem die Wunden des Krieges noch immer anzusehen sind, gegenüber dem Neuen Museum. Kárpáti war seit 1961 im Finnisch-Ugrischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Fühmann war die dortige Bibliothek nützlich.
Die Dichter, die in der Deutschen Demokratischen Republik seit den fünfziger Jahren ungarische Lyrik übersetzten, waren des Ungarischen nicht mächtig. Stephan Hermlin hatte währen des Krieges in einer illegal erscheinenden französischen Zeitschrift gelesen, daß sich französische Dichter Interlinearübersetzungen bedienten. Im Mai 1958 lud er in die Deutsche Akademie der Künste zu einer Zusammenkunft von Nachdichtern ein: Günther Deicke, Franz Fühmann, Peter Hacks, Heinz Kahlau, Max Zimmering.
Erhalten sind von Fühmann insgesamt 76 Briefe, Karten und Telegramme an Paul Kárpáti, einen der wichtigen Mittler ungarischer Literatur, als Wissenschaftler an der Humboldt-Universität bis 1997 tätig und an zahlreichen Veröffentlichungen, als Interlinearübersetzer, Übersetzer, Nachdichter, Redakteur und Herausgeber beteiligt. Zur Kenntnis gelangen auch zwei Briefe an Verleger. Die Briefe und Karten Fühmanns gewähren einen recht guten Einblick in seine äußerst schwierige und verantwortungsvolle Arbeit. Sie dokumentieren Fühmanns Bestreben, die adäquateste, die beste deutsche Übertragung zu erreichen. Der Band Franz Fühmann: Briefe 1950-1984. Eine Auswahl, den Hans-Jürgen Schmitt 1994 im Hinstorff Verlag herausgab, enthielt nur den Brief vom 17. August 1981, in dem Fühmann zweifelte, »ob ich zu Nachdichtungen noch komme, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Ich muß mit meinen großen Sachen fertig werden, oder besser, sie überhaupt erst mal anfangen.«
Nachzulesen ist, wie der auch sonst nach Wahrheit suchende und strebende Fühmann, Autor von Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, worin seine Erfahrungen mit Ungarn und der ungarischen Literatur ganz wesentlich sind, als Vermittler ungarischer Dichtung, als Nachdichter um jede Silbe, um jedes Wort, um den adäquaten Sinn bemüht blieb. Als Lyriker war er, ähnlich wie Stephan Hermlin, seit 1958 nicht mehr mit neuen Gedichten für die Öffentlichkeit in Erscheinung getreten, hauptsächlich eine politische Reaktion. Der Nachdichter Fühmann, vor allem aus dem Ungarischen und dem Tschechischen, wurde einer der wichtigsten Mittler im deutschsprachigen Raum der Dichtung von weltliterarischem Rang dieser kleinen europäischen Völker.
Die Briefe, Karten, auch Telegramme, mit der Anrede »Lieber Herr Kárpáti« kamen meist aus seiner Berliner Wohnung in NO 18, Strausberger Platz 1 oder aus dem Arbeitsdomizil 1605 Märkisch-Buchholz, Birkholzer Straße 85, bis zum Oktober 1972 werden als Absender beide Anschriften genannt, zu seinem Interlinearübersetzer, aber auch aus Budapest, Prerow/Darß (nach einer Operation in Rostock) und schließlich aus der Berliner Charité.
Erstmals gedruckt wird in dem liebevoll hergestellten zweisprachigen Buch, in dem Fühmann und Kárpáti auf einem Foto während einer Lesung der Gedichte von Attila József (1905-1932) im Haus der Ungarischen Kultur in der Karl-Liebknecht-Straße zu sehen sind, dessen Gedicht Nagyon Gaj in der als nicht vollendet geltenden Fassung Es tut sehr weh.
Nicht selten hat Fühmann praktische Forderungen an Paul Kárpáti: das Besorgen von Büchern und Texten, Bitten um Abschriften, Bitten um seine Meinung für die beste Übertragung. Mehrfach entschuldigt er sich bei ihm für die Last, die er ihm auferlegt. Mit nicht wenigen Schwierigkeiten wie dem Finden des richtigen Verlages hatte er sich auseinanderzusetzen. Wie konkret seine Vorstellungen waren, geht aus einem Brief an den Leiter des Verlages Philipp Reclam jun. Leipzig, Hans Marquardt, hervor, dem er am 14. November 1978 detailliert ein Programm einer bibliophilen Ausgabe der Gedichte von Mihály Vörösmarty (1800-1855) vorschlug. Einen weniger anspruchsvollen Band, Wenn einst die Nacht sich erschöpft, brachte Rütten & Loening 1982 mit einem Nachwort von Franz Fühmann heraus.
Die Briefe Fühmanns waren bis zwanzig Jahre nach seinem Tod für die Veröffentlichung gesperrt und konnten deshalb bisher nicht erscheinen. Außer Paul Kárpáti haben am Zustandekommen des Buches der Franz Fühmann Förderkreis Märkisch Buchholz (Berlin) und die Lektoren Paul Alfred Kleinert und József Láng besonderen Anteil, außerdem der Leipziger Verleger Tino Hemmann (Engelsdorfer Verlag) und aus Budapest Dr. Láng (Argumentum Verlag). Zwei Namensregister, deutsch und ungarisch, sind für eine Zweitauflage des Buches zu empfehlen.
Wenn Fühmann auch schon 1974 seinen Abschied von der Nachdichtung ankündigte, hat er bis zu seinem frühen Tod an der Vermittlung ungarischer Dichtung festgehalten. Kárpáti war seit Januar 1984 »spätnachmittags für ein, zwei Stunden … in Fühmanns letzter Wohn- und Werkstatt, wo wir bis zur Abendessenszeit – er im Bett liegend – arbeiteten, das heißt poetische Texte von Mihaly Vörösmarty und Àgnes Nemes Nagy deutsch zu erschließen uns mühten.«
Die Briefe aus der Werkstatt des Nachdichters können als eine etwas verspätete Referenz an Franz Fühmann verstanden werden, der Anfang dieses Jahres 85 Jahre alt geworden wäre.

Franz Fühmann: Briefe aus der Werkstatt des Nachdichters. 1961-1984. Mitgeteilt vom Adressaten Paul Kárpáti, Engelsdorfer Verlag – Argumentum Verlag 2007 (pernobilis edition), 211 Seiten, Preis: 16,50 Euro.
Franz Fühmann: Müforditói mühelylevek 1961-1984. Közzéteszi a lelevek cimzettje Kárpáti Pál. Engelsdorfer Kiadó – Argumentum Kiadó 2007 (pernobilis edition)