von Wolfgang Brauer
Gestern fand zum 31. Male in Berlin die LANGE NACHT DER MUSEEN statt. Die war seinerzeit eine Idee von Jochen Boberg, dem Chef des damaligen Museumspädagogischen Dienstes. Boberg meinte, man müsse doch endlich etwas dagegen tun, dass die Museen so leer seien, und er entsann sich wohl des geflügelten Wortes, dass man mit Speck Mäuse finge. Der Speck waren diverse Veranstaltungen, heute sagt man EVENT, wie Schampus unterm Dinosaurier, Gruseln in den Magazinen, historische Bratwurst im Hof des Märkischen Museums, Sonderführungen so unter dem Motto „Was Sie noch nie sehen wollten!“, kleine Konzerte, Theater etc.pp. – und siehe da, die Mäuse, also wir Besucher, kamen, und die Sache wurde ein Publikumsrenner und die Shuttlebusse erreichen sogar Orte, die die BVG ansonsten scheut wie der Teufel das Weihwasser und die Busse quellen immer noch über. In einer solchen LANGEN NACHT kann man Berlin erleben, wie es sich selbst gerne sieht und ganz selten ist: Als fröhliche und lockere, weltoffene und tolerante Stadt auf deren Straßen und Plätzen es eine Lust ist zu flanieren. Wenigstens einmal im Jahr … Allerdings auch nur bis kurz nach 01 Uhr. Dann sollte alles, was irgendwie auf die ÖFFENTLICHEN mit mehrmaligem Umsteigen angewiesen ist, schleunigst den nächsten S-Bahnhof aufsuchen. Danach könnte sonst leicht die LANGE NACHT DES ABENTEUERS beginnen, mit selbstbestimmter aber fremdgesteuerter Programmgestaltung. Gerne würde ich einmal eine LANGE NACHT DER MUSEEN erleben, die wirklich die ganze Nacht andauert. Was als Museums-Werbeaktion begann, ist inzwischen eines der schönsten Volksfeste der Stadt geworden. Aber da sind wohl die Aufsichtsbehörden, die Gewerkschaften und Kirchen vor.
Nun ist der Anbruch des Morgens kurz nach Mitternacht kein Spezifikum der Berliner LANGEN NÄCHTE. In Potsdam endete die LANGE NACHT DER STERNE (!) in diesem Jahr auch schon um 01 Uhr, dafür begann sie am hellerlichten Tage um 15 Uhr. Zu dieser Zeit beendet Berlin gerade mal sein Frühstück. Woanders ist man um eine Stunde großzügiger. An der Uni Hannover dauerte die LANGE NACHT DER AUFGESCHOBENEN HAUSARBEITEN im März immerhin bis 02 Uhr. Der Berliner Berufsverband des Hotel- und Gaststättengewerbes (DEHOGA) plant in diesem Jahr eine LANGE NACHT DER AUS- UND WEITERBILDUNG IM HOTEL- UND GASTSTÄTTENGEWERBE – furchtbarer Titel, finden Sie nicht auch? –, die kann möglicherweise in Anpassung an die Arbeitsbedingungen der Branche bis zum frühen Morgen gehen. Aber gut, die meisten LANGEN NÄCHTE enden um Mitternacht.
Das Berliner Veranstaltungsformat, ich hatte es schon angedeutet, wurde und wird inzwischen oft kopiert. LANGE NÄCHTE der Museen gibt es fast überall da, wo es mehrere Museen am Orte gibt. Ist deren Bestandsdichte nicht so dicke, macht man wenigstens eine LANGE NACHT DER KULTUR. Auch schön. Die LANGEN NÄCHTE der Musik, des Theaters und der Oper fallen schon nicht mehr auf. Wobei die irgendwie skurril sind: Diese Institute spielen doch wohl sowieso erst, wenn’s draußen dunkel ist? Aber es geht ja um „die Gewinnung neuer Publikumsschichten“, Speck also. WISSENSCHAFTEN („die klügste Nacht des Jahres“ bewirbt man das Event in Berlin), INDUSTRIE und WIRTSCHAFT (nicht die Gastronomie – LANGE NÄCHTE DER KNEIPEN/BARS gibt es mittlerweile auch) haben sich dem Trend angeschlossen. Inzwischen glaubt man (in Hannover) nächtens ausbildungsunwillige Jugendliche besser ködern zu können – mit der LANGEN NACHT DER BERUFE. In Hamburg fand im Juni die 20. LANGE NACHT DER WEITERBILDUNG statt. Die Uni Paderborn hatte eine LANGE NACHT DER STUDIENBERATUNG (Wie kommt man nachts eigentlich nach Paderborn? Sollte man sich das zudem nicht besser bei Tageslicht antun, die Studienberatung meine ich?).
Ganz logisch in der Nacht hingegen die Leipziger LANGE NACHT DER COMPUTERSPIELE. Computerspiele tagsüber können sich nur gelangweilte Studis (LANGE NACHT DER AUFGESCHOBENEN HAUSARBEITEN…) oder Parlamentarier erlauben. Logisch nach 20 Uhr verortet, dachte ich jedenfalls, sei auch die im weltweiten Netz angepriesene LANGE NACHT DER SUCHMASCHINEN. Die hat unsereiner ja wirklich fast jede Nacht. Also wollte ich wissen, was dahinter steckt und landete prompt bei der Suchmaschine der TELEKOM. Alles klar, Freunde… Ähnlich merkwürdig eine Berliner Erfindung, die LANGE NACHT DER FAMILIE. Die fand in diesem Jahr zum zweiten Male statt. Kinder gehören nach 21.00 Uhr eigentlich ins Bett, aber ich bin alt. Von einer LANGEN NACHT, die zweifellos in die Nacht gehört, hab ich nach 2002 jedoch nie wieder etwas gehört. Da gab es in Berlin die erste LANGE NACHT DER BORDELLE, veranstaltet vom damals gerade erst gegründeten Berufsverband sexuelle Dienstleistungen. Wahrscheinlich hat sich die heilige Allianz von Kirchen, Staatsanwaltschaft und berufsentrüsteten Bürgern aufgeregt und die Damen kriegten kalte Füße. In Wien soll es die noch geben, besagte LANGE NACHT natürlich. Aber in Wien soll man ja auch noch nach Mitternacht mit dem ÖPNV fahren können. Als Ersatz gab es 2011 es in Berlin eine LANGE NACHT DER OFFENEN KIRCHEN (woanders gibt es die schon länger, und in Rom sind die Kirchen sowieso die ganze Nacht geöffnet). Am 1. September wird dann der ökumenische Rundumschlag erfolgen: die 1. LANGE NACHT DER RELIGIONEN. Schließlich sind wir Multi-Reli an der Spree.
Es gibt aber auch Furcht erregende LANGE NÄCHTE: Die LANGE NACHT DER MATHEMATIK in Schleswig-Holstein zum Beispiel. Aber Gott sei dank nur im Internet und vom Inhalt her ungefähr das, womit unsereiner als Kind unter dem Stichwort MATHEMATIK-OLYMPIADE traktiert wurde. Die Uni Heidelberg hatte im April eine LANGE NACHT DER ROBOTIK und in Karlsruhe konnte man deren Einfälle im Juni an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg gleich in eine Geschäftsidee umswitschen: Da fand die LANGE NACHT DER GRÜNDER statt. Nun bin ich auf die LANGE NACHT DER KONKURSBERATER und die LANGE NACHT DER FINANZÄMTER gespannt. Immerhin gibt es in Berlin im November die LANGE NACHT DER OHREN. Nee, nicht beim Bundesnachrichtendienst oder in einem Stasi-Museum, das ist eine Veranstaltung der HIFI-Fachhändler. Also eine ebenso konsumorientierte Sache wie die 8. LANGE NACHT DER ZIGARRE, die 2011 auch in Berlin stattfand.
Was habe ich noch gefunden? LANGE NACHT DER CHÖRE, LANGE NACHT DER DESIGNSTUDIOS, LANGE NACHT DER FRAUEN (nur in München), LANGE NACHT DER MEDIATION (nur in Berlin – sind wir besonders zanksüchtig? Kann ich mir nicht vorstellen.), LANGE NACHT DER ILLUSTRATION (Berlin), LANGE NACHT DER POESIE (demnächst in Teutschenthal – wo ist das denn? Aber die Idee ist gut. Respekt, Poesie und Nacht, das geht gut zusammen), LANGE NACHT DER BIBLIOTHEKEN. Die Liste ist verlängerbar. Und wem das alles noch nicht reicht, auch hier ging Berlin in die Vorleistung. Im Mai fand in unserer Stadt (und in Potsdam) die LANGE NACHT DER VISIONEN statt. Da wird noch Einiges zu erwarten sein.
Aber ich denke, ich werde trotzdem nicht zum Nachtwesen mutieren. Schauen Sie sich doch einfach mal im Zoologischen Garten in der Abteilung „Tiere der Nacht“ – das kann man auch an kurzen Tagen – das Erdferkel (Orycteropus afer) an. Möchten Sie so aussehen? Obwohl, „die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“, trällerte Gustaf Gründgens 1938 in „Tanz auf dem Vulkan“. Freuen Sie sich also mit mir auf die nächste LANGE NACHT von was weiß ich auch immer. Und vergessen Sie nicht den Tag zu genießen und zu nutzen!
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