13. Jahrgang | Nummer 11 | 7. Juni 2010

Die NATO auflösen? Gute Idee! Nur an der Umsetzung wird es scheitern.

von David Noack

In einem wichtigen Beschluss auf dem Berliner Parteitag im Jahr 2009 beschloss die Partei Die Linke (PDL), die NATO müsse überwunden werden. Das ist ein hehrer Ansatz. Sollte die PDL jedoch 2013 (oder erst 2017) im Rahmen einer Mitte-links-Regierung an die Macht kommen, ließe sich solch ein Unterfangen jedoch schwer umsetzen. Selbst wenn ein Außenminister Gysi ins Amt kommen sollte, könnte er nicht einfach nach Brüssel fliegen und die NATO für aufgelöst erklären. Es bedarf mittelfristiger Politikansätze, die beides — sowohl realistisch als auch radikal — sind.

Zur Rolle Deutschlands in der NATO

Deutschland ist für die NATO — und die amerikanische Machtprojektion in Europa und Eurasien — ein wichtiges Glied. Außenminister John Foster Dulles sagte 1946 in der New York Herald Tribune: Deutschland sei “neben der Atombombe die größte politische Macht”, die man gegen die Sowjetunion in Stellung bringen könne. Für die USA war die enge Westanbindung der BRD von äußerster Wichtigkeit. Hierzu wurden sogar für die amerikanischen Interessen gefährliche Politiker in Deutschland abgesägt. So hat Karl J. Brandstetter bereits 1989 dargelegt, welche Rolle die CIA in der Spiegel-Affäre im Jahr 1962 hatte. Franz Josef Strauß war Washington ein Dorn im Auge, da er Deutschland unabhängig zu den USA entwickeln wollte. [Karl J. Brandstetter: Allianz des Mißtrauens: Sicherheitspolitik und deutsch-amerikanische Beziehung in der Nachkriegszeit, Köln: Pahl Rugenstein, 1989.] Eine größere Gefahr für die US-Interessen in Europa war jedoch die Politik de Gaulles. Für den französischen General und Präsidenten war die nationale Souveränität das höchste Gut. Deswegen forcierte de Gaulle den Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO — ein kluger Schachzug. Paris blieb so ein Teil der Allianz, jedoch frei von amerikanischen Stützpunkten. In den zivilen Strukturen hatte Frankreich weiter eine Stimme und konnte so den Weg der NATO weiter mitbestimmen. In Washington erregten sich die Gemüter. “Auch befürchtete die amerikanische Regierung, dass de Gaulle das Problem mit Initiativen verschärft hätte, die […] ein schlechtes Beispiel in Bezug auf nationale Unabhängigkeit und militärische Politik geben würde.” [Aus dem Sammelband La France et l’OTAN 1949-1996.] Die amerikanischen Bedenken fokussierten sich auf Bonn. Der US-Botschafter in Paris Charles Eustice “Chip” Bohlen bestätigte “die ultimative Gefahr” der Politik de Gaulles sei “ihre Wirkung auf Deutschland [und] die Möglichkeit einen neuen deutsch-sowjetischen Paktes zu bewirken.” [Ebenda.] Die amerikanischen Irritationen bestanden weiter. Erst durch die Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der Allianz im Jahr 2009 wurde die amerikanische Dominanz in West- und Mitteleuropa wieder voll hergestellt (z. B. während der Operation El Dorado Canyon — der Bombardierung Libyens durch die USA — verwehrte Frankreich den US-Bombern Überflugrechte). [http://www.jungewelt.de/2010/03-30/020.php] Irritationen wegen der Bündnistreue der NATO-Staaten ergaben sich lediglich 2006, als in der Slowakei eine souveränistische Regierung an die Macht kam — formell erklärte sie die Bündnistreue, scherte aber sonst gerne in vielen Einzelfragen aus.

Realistische und radikale Konsequenzen

Was wäre nun eine realistische aber auch radikale mittelfristige Perspektive für die PDL? Die Antwort: Ein Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO. Den US- und britischen Streitkräften in Deutschland könnte ein Jahr Zeit gegeben werden, das deutsche Territorium zu verlassen. Die Atombomben gilt es sofort abzuziehen. Genau ein Jahr hatten die angelsächsischen Truppen auch 1964 bei de Gaulle. Mit einer klaren Absage an den US-Raketenschild könnten die amerikanischen Interessen in Europa darüber hinaus gestört werden. Außerdem müsste die Anerkennung des Kosovo zurückgenommen und eine Lösung nach dem Hongkong-Modell für die südserbische Region vorgeschlagen werden. Einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens ist rundherum abzulehnen. Die deutsche Beteiligung an der NATO-Mission Baltic Air Policing ist ebenfalls zu beenden.
Wenn Deutschland die militärischen Strukturen verlässt, könnte die Slowakei schnell folgen. In dem kleinen Land an der Donau ist das Bündnis bis heute sehr unbeliebt. [http://de.rian.ru/world/20100331/125699803.html] Das gilt für die Bevölkerung, aber auch vor allem für die Regierungskoalition. Diese musste nach Amtsantritt 2006 der NATO die Treue schwören — man wollte es ihr nicht automatisch glauben. Die Slowakei widersetze sich den US-Raketenschildplänen, der Anerkennung des Kosovo, entsandte humanitäre Hilfe nach Südossetien und erklärte, dass das Land an der Donau kein Bundesstaat der USA sei. Der slowakische Premier brüskierte NATO-Generalsekretär Rasmussen bei einem Treffen in Bratislava, als er aussagte, dass es im Irak-Krieg nur um Öl ging — Rasmussen verschlug es die Sprache. Bratislava hatte 2007 seine Truppen aus dem Irak abgezogen. Sollten Deutschland und die Slowakische Republik aus den militärischen Strukturen austreten, ergäbe sich ein mitteleuropäischer Block wider amerikanischer Provokationen gegen Moskau. Dem Raketenschild, der eine substantielle Bedrohung Russlands und des internationalen Gleichgewichts darstellt, könnte ein Halbmond der Deeskalation (Finnland, Schweden, Deutschland, Schweiz, Österreich, Slowakei) entgegen gesetzt werden.

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Außerdem könnte solch ein Block die Staaten mit amerikanischer Militärpräsenz von denen ohne trennen. Die USA haben (abgesehen von Deutschland heute) ihre wichtigsten Basen in Rumänien, Bulgarien, Serbien (Kosovo), Bosnien-Herzegowina, Italien, Belgien, Portugal, dem Vereinigten Königreich und Spanien. Mit den (wenigstens formell) neutralen Staaten Finnland, Schweden, Schweiz und Österreich sowie einem mitteleuropäischen Block Berlin-Bratislava wäre den USA ein wichtiger Vorposten in Eurasien genommen. Derzeit sind zwischen Lappland und den Alpen (inklusive dem Baltikum und Polen) 52.544 GIs stationiert — mit dem Ausscheren eines mitteleuropäischen Blocks würde die Zahl der amerikanischen Soldaten auf ungefähr 124 reduziert. [Active Duty Military Personnel by Service by Region/Country – Total DoD – December 31, 2009, http://siadapp.dmdc.osd.mil/personnel/MILITARY/history/hst0912.pdf] Militärischen Drohgebären Washingtons an Moskau wäre die Spitze genommen. Das Eskalationspotenzial in Europa und der westlichen Hemisphäre würde erheblich reduziert.

David Noack ist freier Journalist und Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.