13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Mein erstes Mal

von Reiner Oschmann

Fußball hab’ ich lange gespielt und noch länger geschaut, aber ich mußte 62 werden, um folgende Erweckung zu erleben: ein Heimspiel des 1. FC Union Berlin. In seinem Stadion an der Alten Försterei in meinem Berliner Wohnbezirk Köpenick.

Das Spiel interessiert mich. Union gewinnt die Begegnung der 2. Bundesliga gegen St. Pauli – inzwischen aufgestiegen – 2:1. Das Team hat das Glück des Tüchtigen. Viel mehr interessiert mich der Mythos der Berliner Elf und ihres Anhangs. Einer Gemeinde, die nach Tausenden zählt, für ihre unerschütterliche Treue bekannt, ihre Widerständigkeit berühmt und für ihre Leidensfähigkeit geachtet ist.

Das Stadion an der Wuhlheide ist mit 19.000 ausverkauft, auch der Hamburger Gästeblock gefüllt, die meisten Fans glücklich auf einem Stehplatz. Das Spielfeld ohne Sicherheitsabstand bis dicht an die ersten Reihen. Felix Magath, vor Jahren mit Bayern München zu Gast, soll sich wie ein Kind gefreut haben, „daß es so ‘was noch gibt, Fußball zum Anfassen. Toll.“

Jung und Alt in den Rot-Weiß-Farben Unions, mit Schals geschmückt und immer bereit, „Eisern Union!“ zu schreien oder zu singen, dem Schlachtruf der Mannschaft, die 1906 als Union Oberschöneweide entsteht und als Elf der einstigen Schlosserjungen aus dem Industriegebiet fortan mit der Anfeuerung über den Rasen getrieben wird: „Eisern Union!“

Vor mir eine Frau mit rot-weißem Basecap und dem Schriftzug „Eisernes Mädchen“. Schlachtrufe lange vor Anpfiff. Bei Bekanntgabe der Aufstellung der Gäste von der Reeperbahn nach jedem Namen ein launiges „Na und“, während jeder Berliner mit dem lautstarken Zusatz „Fußballgott“ geadelt wird. Dann der erste Höhepunkt. Er macht das Stadion zum Kirchentag, die Vereinshymne zum Vaterunser und mein Kommen schon jetzt über jeden Zweifel einer Fehlentscheidung erhaben.

… Wer spielt immer volles Rohr?
Eisern Union, Eisern Union
Wer schießt gern ein Extra-Tor?
Eisern Union, Eisern Union
Wer lässt Ball und Gegner laufen?
Eisern Union, Eisern Union
Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?
Eisern Union, Eisern Union
Den Sieg vor den Augen, den Blick weit nach vorn
Ziehn’n wir gemeinsam durch die Nation
Osten und Westen – Unser Berlin
Gemeinsam für Eisern Union
Eisern Union
Immer wieder Eisern Union
Immer weiter ganz nach vorn
Immer weiter mit Eisern Union …

Vorsängerin Nina Hagen liest nicht nur heute die Messe. Der Titel wurde vor 12 Jahren aufgenommen, und auch wer – wie ich trotz Wohnens im Bezirk – kein automatischer Union-Fan ist, wird von Melodie, Text und der selbstironischen Inbrunst automatisch gefangen genommen. Zu Röhre Nina kann man stehen, wie man will – ein passenderes Maskottchen hätte sich das Vereinslied, das beim letzten Refrain himmlisch, weil elegisch wird, einfach nicht wünschen können.

Gerade bei der Hymne, wenn Rang und Rasen verschmelzen, kriegt auch der Außenstehende eine Ahnung von der Marke Union. Offiziell erst 1966, also mitten in der DDR und kaum fünf Jahre nach dem Mauerbau im Osten Berlins gegründet, ist der Arbeiterverein fortan mäßig gelitten von den Vorderen des Arbeiter- und Bauern-Staates. Union gilt als Radau-Club, durchsetzt und umgeben von unzuverlässigen Kantonisten. Ich gestehe, daß dieser Ruf indirekt auch mich, der ich 1971 von Thüringen und Uni nach Berlin kam, beeinflußt hat. Ich dachte an Hooligans und hatte keine Lust auf Alte Försterei. Inzwischen weiß ich, wie gewollt diese Wahrnehmung manchen Orts gewesen sein dürfte: Union ist selbst in der DDR nie völlig beherrschbar. Wenn schon nicht die Mannschaft, so doch ihr damals schon starker, bunter Anhang ist für manche Überraschung gut. Und wenn die humorlose Ordnung der DDR etwas ganz besonders nicht leiden kann, dann unangemeldete Spontaneität. Der kleine Kosmos Union weiß da mit manch Berliner Eigenleben aufzuwarten:

– mit Jeans-Jacken mit Hertha- oder Bayern-Emblemen auf Fan-Rücken;
– mit dem Schlachtruf „Die Mauer muß weg!“, wenn die gegnerische Mannschaft bei Union-Freistößen die Abwehr formiert,
– vor allem aber: mit vermehrter Zuwendung für die eigene Mannschaft gerade dann, wenn sie am Verlieren ist – was Union oft genug passiert.

Letzteres bewahrt sich über den Mauerfall hinweg und macht den anachronistischen Charme Unions aus. Eine eiserne Regel lautet, das eigene Team nicht auszupfeifen, wenn es nicht läuft, sondern gerade dann doppelte Unterstützung zu beweisen. Ihren vielleicht schönsten und ungewöhnlichsten, weil geradezu marktwirtschafts-fremden Ausdruck findet die Affenliebe von Verein und Anhang voriges Jahr, als das überholungsbedürftige, zu kleine Stadion auf Vordermann gebracht werden muß, um Union salonfähig für die 2. Liga zu machen. Rund 2.000 Anhänger – Leute vom Bau, Rentner und Hausfrauen, Studenten und feinfingrige Künstlernaturen – legen selbst Hand an und sparen ihrem Verein mit fast 100.000 Arbeitsstunden mehr als drei Millionen Euro. Zum Teil sind es dieselben, die Jahre davor, als dem Ostverein die Liquidität auszugehen droht, durchs Brandenburger Tor gezogen waren und bei einer anderen Aktion unter dem Paßwort „Bluten für Union“ dringend benötigtes Geld sammeln.

Bei den Heimspielen – das kann ich nach meinem ersten Mal bestätigen – herrscht entspannte Großfamilienatmosphäre. Das Musketier-Motto „Einer für alle, …“ schwebt unausgesprochen, aber unvergessen über dem Stadion. Das unvermeidliche, oft auch für Fußballanhänger schwer erträgliche, weil kindische Pathos der Fans zu ihrem Verein wird im Falle Unions durch jene Chuzpe verfeinert, die es nur bei Vereinen aus einfachen Verhältnissen, mit den Beinen auf dem Boden und spöttischer Distanz zu den Heilsversprechen der Marktwirtschaft und, nicht zuletzt, in einer ungeschliffenen Stadt wie Berlin gibt. Daran erinnern auch, wenn gar nichts anderes mehr hilft, Anfeuerungsrufe und Inschriften auf Anhängertrikots.

Beim Abgang von meinem Premierenbesuch kommen mir gleich drei unter die Augen. Sie künden von Fanfeuer. Sie erinnern an die Irritation, die derart selbstherrliches Selbstbewusstsein bei den ewig verunsicherten Herrschern im Osten verursachte. Und sie machen eine Berliner Großmäuligkeit in ihrer einzig denkbaren Variante sympathisch – einer Selbstüberhebung, die augenzwinkernd ist. Sie kann freilich auch heute hohe Abschreckung entfalten, etwa bei Auswärtsspielen. Die erste Aufschrift lautet: „Wir werden ewig leben!“, die zweite: „Wir gewinnen sowieso – Eisern Union“, und die dritte, auf der Brustpartie eines unerschütterlich Eisernen Mädchen: „Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern!“