13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Der Irrtum

von Margit van Ham

Es war eine denkwürdige Sitzung des hohen Hauses, die später als historisch in die Geschichte eingehen sollte. Dabei war eigentlich alles wie immer, wenn das Parlament tagte, Reden gespickt mit Angriffen auf den jeweiligen politischen Gegner folgten entsprechend inhaltslose Antwortreden. Der Versammlungsleiter wußte sich geschickt um die zahlreichen Zwischenrufe zu kümmern; er glättete die Wogen, unterbrach Redner, wenn sie das Zeitlimit überschritten; kurz – alles war ganz normal. Dann rief er zur Abstimmung über einen Gesetzentwurf auf, der es in sich hatte: Alle Abgeordneten sollten danach für die Zeit ihres Mandats Mitglied in einer der gesetzlichen Krankenkassen werden. Die Meinungen dazu waren natürlich ablehnend, wer will schon auf Privilegien verzichten. Die Opposition war sich der Ablehnung sicher, konnte also ganz beruhigt dafür stimmen und PR-Punkte in der Öffentlichkeit sammeln.

Nun geschah es, daß der Fraktionsvorsitzende einer großen Partei, die hier nicht verraten werden soll, in der Nacht schlecht geschlafen hatte. Die mangelnde Disziplin seiner Fraktion machte ihm zu schaffen und den Ärger der letzten Beratung mit der Parteispitze hatte er noch nicht verdaut. Noch vor Sitzungsbeginn hatte er daher nochmals alle Fraktionsmitglieder auf die Notwendigkeit geschlossenen Abstimmungsverhaltens hingewiesen. Mit seinem kleinen Signalknopf gab er nun etwas zerstreut die gewünschte Abstimmung vor.

Fassungslos starrten ihn seine Abgeordneten an, zweifelten an seinem Verstand. Aber gleichzeitig waren sie besorgt und wollten sich keinen Ärger einhandeln. Im Endeffekt stimmten also bis auf zwei Ausnahmen alle mit dem Vorsitzenden für die Annahme des Gesetzentwurfes. Nur – der Fraktionsvorsitzende hatte sich in seiner Müdigkeit im Signalknopf vertan. Das Gesetz war angenommen und eine Sensation perfekt.

Der Fraktionsvorsitzende war jetzt hellwach und begriff so langsam, daß er sich geirrt hatte. Als erfahrener Politiker ging er nach kurzem Überlegen sofort in die Offensive und beglückwünschte alle zu dieser Entscheidung, die die Volksnähe seiner Partei unterstreiche. Man könne doch weitaus überzeugender über Gesetze zur Gesundheitsreform befinden, wenn man selbst betroffen sei. Dagegen wollte niemand etwas sagen – zumindest nicht in der Öffentlichkeit.

Die Bürger trauten ihren Ohren nicht, als sie die Nachricht hörten. Sie vermuteten zunächst –und wie wir wissen völlig zu Recht – einen Irrtum, aber wie auch immer – dieses Gesetz war verabschiedet, und es gefiel ihnen. Die Journalisten arbeiteten auf Hochtouren. Eine Umfrage jagte die nächste, und das Ergebnis ließ selbst die verärgerten Abgeordneten aufhorchen. Ihr Ansehen in der Bevölkerung war deutlich gestiegen; weit hatte man endlich die Gebrauchtwagenhändler zurückgelassen.

Nun entwickelte die Geschichte eine unvermutete Eigendynamik, gegen die die Lobbyisten der Pharmaindustrie vergeblich ankämpften. Die Abgeordneten machten nämlich völlig ungewohnte Erfahrungen: auf einen Termin beim Facharzt mußten sie manchmal wochenlang warten; stundenlange Wartezeiten bei akuter Erkrankung waren ein Gräuel. Zuzahlungen auf alle möglichen Leistungen, die bisher zum normalen Standard gehört hatten, machten sie sauer.

Also begannen sie Fragen zu stellen, die niemanden bisher interessiert hatten. Warum gab es mehr als 200 Krankenkassen wurde im Hohen Haus gefragt, und warum waren Medikamente in Deutschland soviel teurer als anderswo. Neue Ideen wurden in Gesetzesentwürfe gegossen und am Ende gab es ein Reformgesetz, wonach die Anzahl der gesetzlichen Krankenkassen auf 25 zu reduzieren sei. Die Pharmaindustrie senkte vorsorglich lieber selbst die Preise; die Stimmung im Parlament war ihnen zu heikel, um es auf neue Gesetze ankommen zu lassen.

Otto Normalverbraucher erkannte seine Parlamentarier nicht mehr. Neugierig ging er jetzt sogar ins Parlament, um die Debatten zu verfolgen. Er beteiligte sich an öffentlichen Diskussionen und Ideenwettbewerben über Alternativen zum bestehenden Gesundheitssystem. Journalisten analysierten ein Aufleben des demokratischen Handelns. Das ganze Land wurde von einer Hochstimmung erfasst. Alles war plötzlich möglich.

Nun bleiben aber Politiker Politiker. Der Fraktionsvorsitzende sah sich plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert – und zwar mit großen Balkenüberschriften – daß er nur aus Zerstreutheit heraus die Partei in eine andere Richtung gedrängt habe. Das schlug wie eine Bombe ein. Sein Rücktritt sowie die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurden gefordert. Der Fraktionsvorsitzende schlug mit einem Interview im Fernsehen zurück. Dort gab er zu, sich in der Tat geirrt zu haben. „Aber“, betonte er, „ich hatte sofort das Gefühl, daß dieser Irrtum ein Wink des Schicksals war. Ich habe mich so wohl dabei gefühlt und deshalb alles getan, daß aus diesem Irrtum konstruktives Handeln wurde.“ Seine Umfragewerte schossen in den Himmel; er wurde nunmehr sogar als Kanzlerkandidat gehandelt.

Natürlich haben Sie recht, wenn sie das Ganze für einen wirren Traum halten. Ich ertappe mich aber immer öfter dabei, so ganz für mich alle Politiker daraufhin zu durchleuchten, ob sie ein Potential zum konstruktiv Verwirrten haben. Das ist meine neue Hoffnung – neben der auf den Lottogewinn.