15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Künstler, Verwerter und Piraten

von Walter Thomas Heyn

Gruselige Horrorfiguren gehen um in Deutschland, es sind die Klabautermänner der Piratenpartei. Sie kommen nerdmäßig aus ihren vergammelten Kajüten und wollen hohnlachend mit blutigen Entermessern den bejammernswerten deutschen Künstlern den letzten Bissen Brot aus dem Maule rauben, auf dass diese darben, verdorren und absterben. Das Abendland ist wieder mal bedroht, diesmal von renitenten immer-alles-umsonst-haben-wollenden Internetzombies.
Dieses Szenario jedenfalls wird unaufhörlich von den Verwertungsgesellschaften, Berufs- sowie Verlegerverbänden auf Endlosschleife gelegt. Sogar die etablierten Parteien, die für Künstler und deren Nöte sonst nur ein mildes Lächeln oder Verachtung übrig haben, warnen die Künstler fürsorglich vor den bösen Piraten: Achtung Fressfeinde! Künstler wehrt Euch! Denn reale Existenzangst geht unter Künstlern um, und dergleichen ist leicht zu instrumentalisieren.
Es wäre zuerst zu klären, von wem die Rede ist. 400.000 Menschen in Deutschland sind in irgendeiner Form mit Kunst beschäftig. Drei Viertel davon sind Hobbykünstler, sie singen im Chor, spielen im Laienorchester oder Theater oder sind in der Malgruppe aktiv. Diese Gruppe freut sich, wenn jemand ihr Weihnachts-Konzert im Gemeindezentrum gleich nebenan bei Youtube ansieht oder sich drei Fotos von der letzten Vernissage in der Stadtteilkirche herunterlädt. Zu dieser Gruppe zählen des Weiteren die Menschen, die mal Kunst studiert haben, aber keine Existenz darauf gründen konnten. Auch sie freuen sich über jede Art Aufmerksamkeit, und in ihrer Sicht ist das Internet Werbung für ihre Erzeugnisse. An Geld denken sie nur bei der Steuererklärung.
Von den verbleibenden 100.000 Menschen ist knapp die Hälfte an Theatern, Orchestern, Musikschulen, Volkshochschulen, Verlagen, Medienanstalten uund so weiter fest angestellt oder arbeitet als Lehrer oder Ausbilder. Der Rest schlägt sich als Freiberufler durch und teilt das Schicksal am freien Markt mit Fotographen, Webdesignern, Dokumentarfilmern, IT-Spezialisten, Spiele-Entwicklern, freien Journalisten, Dramaturgen, Lektoren, Architekten, Steuerberatern, Netzwerkspezialisten, Juristen und so fort. Höchstens jeder zehnte davon ist Autor im Sinne des Urheberrechts.
Wir reden also von etwa 5.000 Leuten, die Mehrheit sind Schriftsteller oder Musikautoren. Von denen nun wiederum ist nur ein Bruchteil im Netz präsent und nur diejenigen, die ein Produkt haben, das die ach so bösen Nerds auch wirklich haben wollen, sind möglicherweise bedroht. Wir reden letzten Endes von Pop-Musik und Filmen, von Kunst sicherlich, aber auch von Produkten, die von vornherein für die kommerzielle Auswertung konzipiert und produziert worden ist. Dahinter stehen die knallharten Verwertungs- und Vermarkungsinteressen der Medienindustrie. Und die ist zunehmend in der Lage, ihre Interessen und die Interessen ihrer Künstler zu schützen. Der prophezeite Kollaps ist nämlich ausgeblieben. Es gäbe eine fühlbare Entspannung, sagte Dieter Gorny vom Bundesverband der Musikindustrie auf dessen jüngster Jahrespressekonferenz.
Nach dem Krieg bis etwa 1989 ging es deutschen Künstlern auf beiden Seiten der Mauer einigermaßen gut. Im Westen dekorierten sie die Schaufenster nach Osten mit Freiheit, Individualität, Glanz und Glitter und ließen die freiheitlich demokratische Grundordnung so attraktiv wie möglich aussehen; im Osten waren sie „Ingenieure der Seele“ (Lenin) und ihre Werke Waffen im Klassenkampf gegen den allzu bunt schillernden Kapitalismus. Künstler und ihre Erzeugnisse wurden gebraucht, deshalb wurden sie auf beiden Seiten einigermaßen auskömmlich bezahlt. Dann kam – nein, nicht das Internet, das war später, es kam die Wende. Künstler wurden Dienstleister, freie Marktteilnehmer, Wettbewerber. Ihre Bedeutung als Deuter, als Seher und Verkünder verschwand und verschwindet bis heute jeden Tag noch etwas mehr. Der Werbe-Slogan „Ist das Kunst oder kann das weg?“ ist daher bei aller implizierten Gemeinheit eine treffende Zeitgeist-Formulierung.
Die Erträge sinken für alle Autoren seit Jahren, weil die großen Verwertungsgesellschaften immer weniger Gelder an die Autoren auszahlen, obwohl ihre Bilanzen immer größere Summen ausweisen. Die Erträge der VG Wort (für Schriftsteller, Journalisten und ähnliche Berufe) beispielsweise sind innerhalb von zehn Jahren auf circa zehn Prozent der früheren Auszahlungssumme gefallen. Ein Verlust von 90 Prozent für die Betroffenen.
Die GEMA, die Verwertungsgesellschaft, die die Komponisten vertritt, hat durch Einführung des so genannten. „Pro-Verfahrens“ (ein mathematisches Hochrechnungsmodell) in den letzten zehn Jahren allen kleinen Bands, Jazz-Combos, Liedermachern (also den Vertretern der „U-Musik“) einen Einnahmeverlust von über 80 Prozent zugefügt. Die Einsprüche und Klagen dagegen laufen bis heute. Die Einnahmen der „E-Musik“-Komponisten sind im gleichen Zeitraum um 40 Prozent gesunken.
Die GVL (Gesellschaft zur Verwertung der Leistungsschutzrechte), eine Institution, die alle Musiker, Schauspieler, Opernsänger etcetera vertritt, sofern diese nicht Autoren sind, zahlte früher auch auf Studiohonorare und ähnliches eine Vergütung. Nun ist die Auszahlung trotz vorhandener CD oder DVD an Rundfunk -und Fernsehausstrahlungen gebunden – 95 Prozent der hiesigen Künstler bekommen in Zukunft also nahezu nichts mehr von dieser Gesellschaft, denn sie werden nicht gesendet. Dafür gehen jetzt stattliche Millionenbeträge über den großen Teich. Die GVL erwartet „erhebliche Rückflüsse aus dem Ausland“. Selten so gelacht.
Warum das alles so ist, wie es ist, erläuterte Thomas Hoeren von der Uni Münster vor einiger Zeit im Deutschlandfunk. Er beschrieb die Verkehrung des Urheberrechtes zu einem Wirtschaftsrecht, von dem in erster Linie die großen internationalen Copyright-Besitzer zu Lasten der Autoren Nutzen ziehen (Die Sendung kann man auf der website des Senders nachhören). Eine weiterführende Analyse bietet Hoeren im Internet als PDF-Download an: „Was bleibt vom Urheberrecht im Zeitalter von Filesharing und Facebook?“.
Und in der Tat bemerken die Autoren sehr allmählich, dass nicht die Piraten oder höhere Mächte in Brüssel an ihrer schleichenden Enteignung schuld sind, sondern das das Problem auf der Verwerterseite liegt. Erste Klage sind eingereicht, und das Landgericht München I hat am 24. Mai eine Entscheidung gegen die VG WORT getroffen. In dem Rechtsstreit geht es um die Frage, ob eine pauschale Beteiligung von Verlagen an den Auszahlungen der VG WORT zulässig ist. Das Landgericht hat diese Frage in einem Einzelfall verneint. (Das Urteil ist allerdings eine erstinstanzliche, noch nicht rechtskräftige Entscheidung.)
Die Piraten sind an all diesen bedauerlichen Entwicklungen aber nicht schuld. Sie sitzen nicht in den Aufsichtsräten, nicht im Deutschen Patentamt, nicht in den Ministerien, nicht in Brüssel. Man muss den Piraten vorwerfen, dass sie das Urheberrecht nur aus der Perspektive sehen, die sie kennen: kleine Clips oder ’n paar Tracks aus dem Netz downloaden. Ein Begriff wie „Oper“ wäre ihnen wohl eher fremd. Aber bevor sie mitregieren dürfen, vergehen mindestens drei Bundestagswahlen, also zwölf Jahre. Bis dahin sind sie erwachsen und können Gesetzestexte lesen, weil ein Drittel von ihnen dann Rechtsanwalt oder Beamter oder Lehrer sein wird, wie in allen Parteien. Unabhängig davon dahin sollten sich die Autoren um sich und ihre Interessen in jedem Fall selbst kümmern.